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Überleben auf Zeit. Diese jungen Frauen, gerade in Auschwitz angekommen, dürfen vorläufig weiterleben – die SS hält sie für „einsatzfähig“.

© ZDF und Yad Vashem

"Ein Tag in Auschwitz": Leugnen zwecklos

Ein Fotoalbum, angelegt von SS-Mördern, wird zur ZDF-Dokumentation der grausamen Routine im Vernichtungslager Auschwitz.

1944, Geheimpost aus Auschwitz: Ein Fotoalbum, 56 Seiten, fast 200 Bilder. Adressat neben anderen führenden Judenmördern: Reichsführer SS Heinrich Himmler. Absender: SS-Stabsscharführer Bernhard Walter, ehemaliger Stuckateur, 1934 als Freiwilliger im KZ-Wächterdienst. Erst Dachau, dann Sachsenhausen. Ende 1940 mit der Familie nach Auschwitz versetzt. Mit Unterstützung der SS wird er zum Fotografen umgeschult und leitet den "Erkennungsdienst", beschäftigt mit dem Ablichten der Häftlinge. 1944 erweitert sich das Aufgabenfeld Walters und seines Assistenten, des SS-Unterscharführers Ernst Hofmann, ein fotobegeisterter ehemaliger Volksschullehrer. Beide sollen im Auftrag der Führung in 15 Kopien ein Fotoalbum über das "Ungarn-Programm" erstellen.

Die SS hat gerade viel geleistet: innerhalb von nur acht Wochen die Ermordung von 350 000 Juden aus Ungarn. Walter und Hofmann sind jetzt viel unterwegs. Sie begleiten knipsend die "Abfertigung" Tausender Juden am Tag. Vom Eintreffen der Güterwaggons, über das Aussteigen, die Aufstellung in Männer- und Frauenkolonnen, die anschließende Selektion in Arbeitsfähige und gleich zu Ermordende.

Das SS-Shooting kennt keine Pause

Den letzten Weg der für die Gaskammer vorgesehenen Gefangenen gehen Himmlers Lichtbildner mit. Am Ende des Weges, in einem Wäldchen vor den als Duschen getarnten Gaskammern, heißt es Ausruhen. Das SS-Foto-Shooting aber kennt keine Pause. Walter und sein Assistent wissen, was die Gefangenen nicht wissen: Kaum mehr als eine Stunde und alle werden tot sein, die da zwischen den Kiefern stehen und an den Fake vom Duschen und Weiterleben im Lager glauben müssen.

Die Macher der Dokumentation, Winfried Laasch und Friedrich Scherer, haben vor Ort die Grundrisse der von der SS gesprengten Anlagen untersucht und festgestellt: Walter und Hofmann haben sich auf die Schwelle gestellt, über die es zum Auskleideraum und dann zur als Dusche getarnten Gaskammer geht. Die SS-Voyeure fotografieren den getäuschten Totgeweihten ins Gesicht. Dazu gehören die Einträge, die sich mit der Geselligkeit der Täter beschäftigen. Ein Ausbruch von Spießigkeit: Quetschkommode und Liedersingen für den Chef im Freien, Liegestuhl-Sitzen in der Sonne, Geburtstagssaufen mit schlüpfrigen Anspielungen.

Natürlich beschäftigt sich "Ein Tag in Auschwitz" mit den Opfern. Die Autoren haben großes Rechercheglück. Sie finden die jüdische Zeitzeugin Irene Weiss, 1930 in einem ungarischen Karpatendorf geboren. Sie kommt Ende Mai 1944 mit ihrer sechsköpfigen Familie nach Auschwitz. Die Erzählungen der heute 89-Jährigen bei Washington lebenden Frau sind geprägt von einer überwältigenden Gefasstheit.

Sie gibt den Ton vor, der diese Dokumentation zum TV-Ereignis macht: sehende, statt blinder Wut, erkennender Zorn. Besonders eindrücklich sind ihre Erinnerung an die Verwirrung, in die Irene Weiss als 13-Jährige bei ihrer Ankunft in Auschwitz gestürzt wird. Erst die Erleichterung, in einem vermeintlich reinen Arbeitslager ankommen zu sein, dann das Entsetzen.

Die Schwester Edith geht ins Gas

Irene wird von ihrer jüngeren Schwester Edith mit einem Spazierstockhieb getrennt. Edith schickt man, was beide nicht wissen, in die Kolonne der Todgeweihten, in der die Mutter mit den kleinen Brüdern längst verschwunden ist. Irene, die fürs vorläufige Überleben als Arbeitssklavin ausgewählt ist, bleibt für einen Moment in einer anderen Kolonne irritiert stehen: Wie soll unsere Familie, wie von den Nazis versprochen, im Lager je wieder zusammenkommen? Da drückt Nazi-Knipser Walter auf den Auslöser. Irene erkennt sich dreißig Jahre später als Verzweifelnde auf dem ins Album genommenen Walter-Foto wieder.

In der ZDF-Dokumentation wird richtigerweise viel erklärt für Nachgeborene (auch durch glänzende Unterrichtsmaterialien). Es werden die Betroffenheitsphrasen weggelassen, der Sprecher Philipp Moog verzichtet auf pathetisches Geraune. Moderne TV-Errungenschaften dagegen wie ein maßvolles szenisches Reenactment (fiktive Kurzszenen) werden wie selbstverständlich eingeflochten. Durch eine neuartige sogenannte "Parallaxen-Animation" kann die Kamera "3D-Fotofahrten" durch die einmaligen Albumfotos unternehmen.

Die wohl einzig heute noch existierende authentische Fotoarbeit aus dem Herzen der Hölle belegt eine Wahrheit, die keine Höckes und Fliegenschissbehaupter bestreiten können. Wie gut, dass Walter auf dem Rückzug nach Westen sein Album-Exemplar im KZ Dora-Mittelbau liegen ließ, es die dort inhaftiere ungarische Jüdin Lili Jacob an sich nahm und später der Gedenkstätte Yad Vashem vermachte.

„Ein Tag in Auschwitz“, ZDF, Dienstag, 20 Uhr 15

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