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Intensiv suchen die Kommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec, links) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) nach den Spuren des Vergewaltigers. Foto: BR

© BR/Hagen Keller

Krimi in der Kiste: Münchner "Tatort": Alles auf Anfang

Im Münchner „Tatort“ müssen die Kommissare Ivo Batic und Franz Leitmayr einen scheinbar klaren Fall neu aufrollen. Denn obwohl es Beweise gibt, wird ein mutmaßlicher Vergewaltiger freigesprochen. Eine intensive Jagd beginnt.

Der deutsche Fernsehkrimi hat bekanntlich für seine jüngere Neigung zur Tiefenpsychologie einen hohen Preis bezahlt: Die Spannung, verstanden als Fieber der Jagd entlang der Fragen „Wer war es und wie kriegt man ihn?“ nahm kontinuierlich ab. Es griffen stattdessen allerlei Seelenkriege Platz, die bis ins Privatleben der Kommissare hineinreichten. Aber nun zeigt sich gottlob beim „Tatort“ am Sonntag, dass der Prozess nicht unumkehrbar ist. „Nie wieder frei sein" geht auf klassische Krimi-Manier nicht mehr in die Figuren hinein, sondern gleich nah an alle heran. Er gibt uns wieder das vertrackte Rätsel auf, zu dem Tat und Schuld und Zeugenschaft sich verschlingen können, und lässt uns mitkombinieren, mitschließen und raten: Wer war es?

Die Anfangssequenz stellt die Stimmung her, und die ist düster. Aus einem Lieferwagen wird ein Frauenleib geworfen – auf einen leeren Platz in tiefer Nacht. Von weit oben blickt die Kamera auf den misshandelten Körper. Pause. Stille. Da bewegt sich ein Fuß, ein Bein. Die Frau lebt noch. Sie kommt hoch. Für die Zuschauer ist das so etwas wie eine Rettung. Und drohend erhebt sich die Frage: Wer hat dem Mädchen mit dem langen Lockenhaar das angetan?

Schnitt. Ein Gerichtssaal. Markus Rapp (Shenja Lacher) ist angeklagt, die überlebende Melanie Bauer (Anna Maria Sturm) vergewaltigt und ihr nach dem Leben getrachtet zu haben. Er ist vorbestraft. Er könnte noch einen anderen Mord begangen haben. Frau Bauer hat ihren Peiniger nicht gesehen, erinnert sich aber an seine Stimme. Und dann ist da noch eine wichtige Zeugin. Die Kriminalhauptkommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtweitl) haben ganze Arbeit geleistet.

Der mutmaßliche Vergewaltiger Rapp hat eine Verteidigerin, Frau Zimmer (Lisa Wagner). Auch die leistet ganze Arbeit. Sie ist jung und ehrgeizig, es ist ihr erster großer Fall. Sie entdeckt Ungereimtheiten, stellt fest, dass das am meisten belastende Indiz, ein Abhörband, auf nicht ganz legale Weise beschafft worden ist. Der Antrag auf Durchsuchung war zwar gestellt, die Genehmigung aber nicht abgewartet worden. Die „Gefahr im Verzuge“, von den Kommissaren geltend gemacht, wird hier nicht anerkannt. „Das Abhörband ist auszuschließen“, sagt der Richter. Und jetzt hat sich auch noch die wichtige Zeugin, eine Prostituierte aus Georgien, in ihre Heimat abgesetzt. Das Ungeheuerliche geschieht: Rapp wird freigesprochen. Batic und Leitmayr sind wie vom Donner gerührt. Melanie Bauer bricht zusammen. Ihre Eltern und Freunde können es nicht fassen, ein Klima der Lynchjustiz entsteht. Ivo und Franz sammeln die Trümmer ihres scheinbar so klaren Falls vom Boden auf und fangen noch mal von vorne an. Sie resümieren: „Es könnte auch ganz anders sein.“

Dieser Satz ist das Mantra des Films – er passt auf jede Etappe der neuerlichen Ermittlungsarbeit, er macht den Kommissaren zu schaffen, er lässt das Opfer verzweifeln – und er hält die Zuschauer bei der Stange. Der Film beginnt noch mal von vorn

Da glaubten „die Guten“ genau zu wissen, wer „der Böse“ sei, und nun obsiegt der Zweifel. Das Gericht muss sich an diesen Zweifel halten und den nicht überführten Angeklagten freisprechen. Egal, was das für die Familie des Opfers heißt – und für die des vormals Verdächtigen. Der überforderte Rapp senior (Tilo Prückner) muss sich die Sprüche der Nachbarn anhören und die Scheiße wegmachen, die ihm der Mob in den Briefkasten kippt.

Dass sich die Rechtsprechung über das Bauchgefühl hinwegsetzen muss, ist akzeptiert und immer wieder ein interessanter Aufhänger für Krimiverwicklungen. Dass sich auch die Kommissare über ihr Bauchgefühl hinwegsetzen, wäre zu viel verlangt. Aber sie müssen ihm etwas entgegensetzen: Genauigkeit, Analyse, Beweiskraft. Immerhin erkennen sie an, dass sie nicht stark genug waren, um die alerte Anwältin auszupunkten und den Richter zu überzeugen. Und sie legen sich nach dem Neustart verdammt ins Zeug, um die Scharte auszuwetzen und der Wahrheit auf den Grund zu kommen. Dabei entwickelt sich dieser Tatort (Buch: Dinah Marte Golch, Regie: Christian Zübert) zu einem intelligenten Spiel in der Tradition des klassischen Krimis. Dessen Mantra, dass es auch ganz anders sein könnte, dekliniert er nach allen Seiten durch. Bis er geklärt hat, dass es letztlich nur so und nicht anders gewesen ist.

„Nie wieder frei sein“, 20 Uhr 15, ARD

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