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Sprung ins Glück? Heather Nill (Olivia Welch) wagt sich von der Klippe aus in den lebensgefährlichen „Panic“-Wettbewerb.

© Matt Lankes/Amazon Studios

Neue Serie auf Amazon Prime: Stadt, Land, „Panic“

In der Amazon-Serie „Panic“ kämpfen Teenager in riskanten Mutproben um ihre Zukunft.

Der Pakt zwischen Stadt und Land, über Jahrtausende hinweg blieb er weitestgehend erhalten: hier Vielfalt, Freiraum, Kultur, coole Jobs, dort Eintracht, Weite, Natur, gesunde Luft. Trotz wechselseitiger Entfremdung schien dieser Deal auf ewig unverbrüchlich – bis Corona Städte zu Orten der Begrenzung machte und Dörfer zu Stätten der Entfaltung. Wer weiß, vielleicht hatte Lauren Oliver diesen Umkehrschub im Sinn, als sie ihren Bestseller „Panic“ ausgerechnet inmitten der Pandemie verfilmen ließ.

„Die Verlierer bleiben hier und verlieren“, ertönt es zu Beginn der Amazon-Serie aus dem Off, während jemand irgendwo im Nirgendwo lebendig begraben wird. Die Sieger einer langen Reihe brandgefährlicher Spiele indes „kommen raus“. Aus der Kleinstadt, also dem Elend. In die Großstadt, also das Glück. Motor und Motiv der kompetitiven Landflucht: „Panic“. So heißt der Zehnteiler, in dem die Provinz als Ort des Grauens gilt – so fürchterlich, dass texanische Teenager alles tun, um ihr zu entfliehen.

[„Panic“, zehn Folgen, ab Freitag bei Amazon Prime Video.]

Potenziell tödliche Mutproben nämlich von Russisches Roulette bis Verfluchtes Haus, für deren Bewältigung ein Preisgeld von 50 000 Dollar winkt. Genug also, um Carp – so heißt das texanische Wüstennest – weit hinter sich zu lassen. Dafür riskieren die Teilnehmer alles, im Zweifel ihr Leben. Bei Heather Nill (Olivia Welch) kein Wunder: Nachdem die 17-Jährige ihr Abschlusszeugnis der lokalen Highschool erhalten hat, kehrt sie heim in den heruntergekommenen Trailerpark, wo ihr die eigene Mutter gerade das mühsam ersparte Geld fürs College gestohlen hat. Derart desperat, nimmt Heather also allen Mut zusammen und steht des Nachts auf jener Klippe, wo drei Dutzend Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit einem Sprung ins Wasser die ersten Punkte der jährlichen Spielrunde „Panic“ ergattern.

Von hier aus nimmt eine Steigerungslogik adoleszenter Selbstermächtigungsversuche mit handelsüblichem Personal ihren Lauf, das genretypisch ein bisschen anders ist als anfangs gedacht. Heathers (offenbar) argloser Kumpel Bishop (Camron Jones) und ihre (offenbar) tolle Freundin Natalie (Jessica Sula), der (offenbar) ehrlose Womanizer Ray (Ray Nicholson) und ein (offenbar) netter Fremdling Dodge (Mike Faist) – im Kreise dicker, dünner, schlauer, doofer, schwarzer, weißer, lauter, leiser Kontrahenten ringen sie mal mit-, meist gegeneinander um Abnabelung und sehen sich dabei der Polizei um Sheriff Cortez (Enrique Murciano) gegenüber, die den Wettbewerbern nachjagt, weil „Panic“ im Vorjahr zwei Todesopfer gefordert hatte.

Kritik an den Unvereinten Staaten von Amerika

Unter der künstlerischen Leitung wechselnder Regisseure legt Showrunnerin Oliver die Messlatte demnach scheinbar niedrig auf nervenzerfetzendes Coming-of-Age mit Krimielementen, etwas Pubertätsgebalze und reichlich Action – wäre da nicht der zarte, aber unübersehbare Anflug sozialer Kritik an den Unvereinigten Staaten von Amerika, nachdem die Reaganomics das Land in Arm und Reich, Privilegiert und Abgehängt, Oben und Unten zerteilt hatte. Eine Saat, die Populisten von George W. Bush bis Donald Trump virtuos abgeerntet haben.

Durchschnittlich 45 Minuten pro Folge befreien sich drei Dutzend Kontrahenten daher nicht nur aus der unter- oder überbehüteten Ödnis ihrer prekären Existenz am rechtspopulistischen Südrand der USA; sie bekämpfen damit auch den inneren White Trash einer Gegend, in der Autoreifen dicker sind als die Bankkonten und die Aufstiegschancen geringer als der Drogenkonsum. Jugendliche um Heather feiern dabei zwar etwas zu urbane Partys in etwas zu urbanen Outfits bei etwas zu urbaner Musik, was ihre verzweifelten Fluchtinstinkte leicht abwegig wirken lässt. Trotzdem machen sie die Zerrissenheit der digital globalisierten Generation Smartphone im Umfeld analoger Verwahrlosung durchaus glaubhaft.

Denn falls darin irgendwas noch unverbrüchlicher ist als der Gegensatz von Stadt und Land, dann das Konkurrenzdenken einer Ellenbogengesellschaft, die unter Trumps rücksichtsloser Klientelpolitik nochmals angespitzt wurde. „Es gibt kein Zusammen in Panic“, sagt Natalie entsprechend zu Heather, als die sich für „Panic“ anmeldet und damit von der Freundin zur Konkurrentin wird. „Es gibt nur dich oder mich.“ Wem diese Deutung der Serie zu theoretisch ist, kann sie aber auch einfach ignorieren und sich ganz praktisch sechs Stunden lang mit reichlich Action unterhalten lassen.

Jan Freitag

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