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© dpa

Big Brother: Nur noch ein kleiner Bruder

"Big Brother" wird zehn Jahre alt und regt keinen mehr auf. Die Karawane der Reality-Formate ist weitergezogen. Die Empörung der ersten Stunde über diese Art von Voyeurismus wirkt heute beinahe altmodisch.

Wie die Zeit vergeht! Man wühlt sich durch die alten Bilder und findet aufschlussreiche Szenen. Etwa: Guido Westerwelle, der sich im Oktober 2000 bei „Big Brother“, dem ersten Medienphänomen der nuller Jahre, forsch an die Jungwähler ranschmeißt. Die helle Empörung vor der ersten Staffel war verpufft, da wollte der eine oder andere angesichts des unerwarteten Publikumserfolgs doch mal die Nase in den Container stecken. Die Wege des Großen Bruders und des (damals) kleinen FDP-Generalsekretärs haben sich ziemlich auseinanderentwickelt. Westerwelle hat es zum Bundesaußenminister gebracht, „Big Brother“ (BB) ist auf Alltagsmaß geschrumpft.

Als RTL2 vor einer Woche das erste Jahrzehnt „Big Brother“ feierte, musste das Ausland für die größten Aufreger herhalten. In Bulgarien prügelten sich Kandidaten, in den Niederlanden gab’s eine Live-Geburt. In Großbritannien sucht man gezielt Kriegsversehrte mit amputierten Beinen oder Armen. Hierzulande wurden mal Kandidaten nach Pädophilen-Witzen und „Sieg Heil“-Rufen rausgeworfen, so was kann vorkommen beim Rein und Raus im Dauerbetrieb. Das Problem ist eher, dass das Fernsehen unterhaltsamere Reality-Formate entwickelt hat. Die Inszenierung der geschlossenen BB-Welt wirkt langatmiger als Castingshows und weniger charmant als Inka Bauses Liebesschnulzen vom Land oder Peter Zwegats kundige Finanzberatung.

Ohnehin wird das Publikum derart mit „Reality“ überschwemmt, dass dem Echte-Leute-Fernsehen die echten Leute ausgehen. Während die Sender auf Pseudo-Dokus nach Drehbuch wie bei „Verdachtsfälle“ (RTL) setzen, geben sich bei „Big Brother“ weiterhin Normalos und Exzentriker die Türklinke in die Hand, von A wie Pornodarstellerin Annina bis Z wie Kfz-Mechaniker Zlatko, dem Helden der ersten Staffel. Die Kandidaten werden zusammengepfercht und bis in den letzten Winkel beobachtet, um sie zum Lachen und Weinen, Zanken und Befummeln zu bringen. Einen „Belastungsmarathon“ und ein „seelisches Bungee-Jumping“ nennt das Psychologe Ulrich M. Schmitz, der seit der ersten Staffel Profile von Bewerbern erstellt und bei Konflikten im Haus eingegriffen hat.

Aber wen interessiert’s? Nur die eingefleischte Fan-Gemeinde schaut bei „Big Brother“ noch hin. Immerhin ist sie größer, als RTL2 im Durchschnitt vor den Fernseher lockt. Der Zuschauer-Marktanteil blieb über die letzten vier Staffeln weitgehend stabil, zuletzt waren es 7,1 Prozent, darunter in der Mehrzahl Frauen (57 Prozent). Ein Fünftel war im Teenager-Alter, ein Viertel waren Twens. Zweistellige Marktanteile und Boulevardschlagzeilen heimsen andere ein: Dieter Bohlen und Heidi Klum, verliebte Bauern und „Supertalente“. Die Karawane ist weitergezogen und hat die „Mutter aller Reality-Formate“, wie Endemol-Produzent Rainer Laux das eigene Produkt nennt, abgehängt.

Der 48-jährige Laux, BB-Macher von der ersten Sendeminute an, gibt sich vor Beginn der zehnten Staffel an diesem Montag gelassen. „Anfangs war es das Aufreger-Format. Jetzt sind wir einfach da und haben nicht mehr mit dieser Häme zu kämpfen, sondern werden als Soap-Format im Fernsehen akzeptiert – natürlich von der Historie her eher mit einem schlechten Beigeschmack, aber daran arbeiten wir.“ Es sei nach wie vor für viele Menschen spannend, anderen Leuten im Alltag zuzugucken, „auch beim Zähneputzen oder Duschen“.

Die Empörung der ersten Stunde über diese Art von Voyeurismus wirkt heute altmodisch. Etwas Persönliches öffentlich von sich preiszugeben, scheint nur wenigen peinlich zu sein. Im Internet grassiert bedenkenloser Datentausch. Der anhaltende Run auf die Castingshows legt den Schluss nahe, dass es für viele ein wichtiges Lebensziel ist, öffentlich wahrgenommen zu werden – ich bin unterhaltsam, also bin ich. Immerhin winken ja 250 000 Euro Siegprämie. John de Mol, der die Orwell’sche Schreckensvision vom dauerüberwachten Staatsbürger in ein Etikett für Fernseh-Unterhaltung umdeutete, hatte offenkundig das richtige Gespür, als er im September 1999 erstmals „Big Brother“ in den Niederlanden auf den Schirm brachte.

Man vergisst es leicht, aber das Format war eines der größten ökonomischen Erfolge der Fernsehgeschichte. Es wurde in 70 Länder verkauft und hatte wesentlichen Anteil am Aufstieg von Endemol zu einem der weltweit größten Fernsehproduzenten, an dem zurzeit auch Silvio Berlusconis Mediaset und die Goldman Sachs Group beteiligt sind. Endemol Deutschland mit Sitz in Köln hat auf dem Fernsehmarkt noch andere Eisen im Feuer, etwa „Wer wird Millionär?“, das irgendwie sympathischer rüberkommt. „Big Brother“ präsentiert dagegen mit einem gewissen Kalkül ebenso den minimalen Bildungshorizont eines Zlatko wie die maximale Oberweite von Annina.

Angesprochen auf den Vorwurf des Unterschichtenfernsehens, zieht Rainer Laux ein paar Zahlen aus der Tasche. „Knapp 40 Prozent der Zuschauer bei der letzten Staffel waren Angestellte und Beamte, 29 Prozent Facharbeiter und Meister. Und bei den Bewerbern sind alle möglichen Leute dabei, vom Arbeiter bis zum Professor für Quantenphysik. Wir sind vom sogenannten Unterschichtenfernsehen weit entfernt.“ Zudem sei BB ein „einmaliges Internet-Format“. In den Foren der offiziellen Seite gebe es Gruppen, „die abwechselnd den 24-Stunden-Kanal gucken und alles, was im Haus passiert, mitschreiben“. Da werden die Kandidaten, wie Laux sagt, für manchen zum „Familien-Ersatz“. Eine erschreckende Vorstellung, aber zugleich steht der Große Bruder in diesem geschlossenen System selbst wieder unter Beobachtung: „Wenn wir die Ereignisse für das Fernsehen nicht gerecht zusammenschneiden würden, wäre der Aufschrei groß“, sagt Laux.

„Big Brother - Der Start“, Montag, RTL 2, 21 Uhr 15

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