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Die Intimität zwischen zwei Menschen ist kostbar und verletzlich. Beim Drehen für Film und Fernsehen allerdings kommt es häufig zu Grenzüberschreitungen.

© imago/INSADCO

Studie über sexualisierte Gewalt bei Dreharbeiten: Echt übergriffig

Szenen mit Intimität, Nacktheit und sexualisierter Gewalt: Was Schauspielerinnen und Schauspieler erleben.

Die Ergebnisse sind ernüchternd, nein, sie sind erschütternd. Vier von fünf Schauspielerinnen haben in Film- und Fernsehproduktionen in Deutschland Erfahrungen mit Grenzverletzungen, sexueller Belästigung oder sexualisierter Gewalt machen müssen. Das trifft auch auf etwa die Hälfte der Schauspieler zu.

Nacktheit, Intimität und sexualisierte Gewalt, das sind in Serien und Filmen beileibe keine Ausnahmen, das ist die Regel. Nach den vorliegenden Zahlen einer aktuellen Umfrage haben nur fünf Prozent der Schauspielerinnen und vier Prozent der Schauspieler noch nie eine Szene gespielt, die eine solche Darstellung enthält. Und in diesem Kontext haben über die Hälfte der weiblichen Befragten mindestens einmal Übergriffiges erlebt, ebenso über 20 Prozent der männlichen Befragten. In der Arbeitswelt berichten im Bundesdurchschnitt 13 Prozent der Frauen und fünf Prozent der Männer von solchen Erfahrungen, sagt eine Studie des Bundesverbands Schauspiel (BFFS), die der Verein zusammen mit dem Institut für Medienforschung der Universität Rostock und dem culture change hub durchgeführt hat.

Die Zuschauerinnen und Zuschauer bekommen von solch fragwürdiger Praxis nichts mit, die Betroffenen umso mehr. Und sie werden sehr früh damit konfrontiert: Bereits während der Ausbildung haben eine von drei Schauspielerinnen und etwas mehr als ein Sechstel der Schauspieler bei der genannten Darstellung derartige Grenzüberschreitungen erlebt. Offensichtlich gehört der Übergriff zu einer „normalen“ Produktion von Film und Fernsehen schlichtweg dazu.

Die Studie zeigt auf, warum diese Grenzverletzungen so willkürlich und so ungehemmt passieren können. In der Branche herrscht eine omerta, eine ausgesprochene Schweigekultur. Jede zweite Schauspielerin und einer von fünf Schauspielern haben „Angst, keine Arbeit mehr zu bekommen, falls sie sich zu einem Vorfall äußern würden“, gibt die Umfrage preis. Schauspielerinnen haben zudem vier Mal häufiger Angst, über Vorfälle zu sprechen als Schauspieler (11,7 Prozent), da es oftmals keine Zeugninnen und Zeugen gibt.

Schauspielende wollen nicht als schwierig gelten

Das Mitmachen wird quasi vorausgesetzt. Fast 70 Prozent der Schauspielerinnen und ein Drittel der Schauspieler wollen nicht als „schwierig“ gelten, wenn sie Details der Darstellung von Intimität, Nacktheit oder sexualisierter Gewalt nicht oder nur zu bestimmten Bedingungen zustimmen würden.

Die festgestellten Probleme bestehen auf nahezu allen Ebenen einer Film- und Fernsehproduktion. Stichwort Casting: Intime Szenen sollten 20 Prozent der weiblichen und zehn Prozent der männlichen Befragten mindestens einmal ohne Absprache beim Casting spielen. Nur ein Viertel der Schauspielerinnen und ein Drittel der Schauspieler fühlen sich über den Ablauf von Intimitätsszenen rechtzeitig aufgeklärt. Natürlich ist die Produktion von Film und Fernsehen, die Schauspielerei eine Art der (künstlerischen) Exhibition, doch das „Gang und Gäbe“ muss nachdenklich stimmen.

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Auch die Regisseurinnen und Regisseure gehen in diese fraglichen Szenen mit großer „Gelassenheit“. Nur zehn Prozent der Schauspielerinnen und 16 Prozent der Schauspieler geben an, dass die Regie im Umgang mit Intimitätsszenen geschult ist. Auch untereinander scheinen Schauspielerinnen und Schauspieler das Problem zu kennen, wenn nicht zu akzeptieren. 44 Prozent der Schauspielerinnen und sieben Prozent der Schauspieler haben Grenzüberschreitungen durch männliche Kollegen erfahren. Neun Prozent der Schauspieler und drei Prozent der Schauspielerinnen wissen von deratigen Vorgängen zu berichten.

Wie sehr diese Praxis den Dreh beherrscht, belegen auch diese Zahlen: Die Mehrheit der Schauspielerinnen (71,7 Prozent) und Schauspieler (59,3 Prozent) habe selten oder nie das Gefühl, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für den professionellen Umgang mit Intimitätsszenen oder Szenen mit sexualisierter Gewalt geschult seien. Anything goes? Anything goes. Die große Majorität der Schauspielerinnen und Schauspieler – die Schauspieler sogar zu 90 Prozent – geben zu Protokoll, bisher keine schriftlichen Regelungen zu intimen Szenen und Nacktheit gehabt zu haben.

"Vulnerable Arbeit an herausfordernden Szenen"

Die Vorsitzende des BFFS, die Schauspielerin Leslie Malton, hat die Ergebnisse der Umfrage, die dieser Tage beim Filmfest München vorgestellt wurden, deutlich kommentiert. Es wird sichtbar, „wie vulnerabel die schauspielerische Arbeit an diesen herausfordernden Szenen ist. Und dass wir einen professionelleren Arbeitsrahmen brauchen, um Grenzverletzungen für Schauspieler*innen zu vermeiden.“

Das Problem ist nicht rein deutsch, es ist international. Es besteht akuter Handlungsbedarf, und es wird gehandelt. Der BFFS sieht im Einsatz von sogenannten „Intimacy Coordinators“ einen gelungenen Lösungsansatz. Einen ersten Weiterbildungsgang im deutschsprachigen Raum für Intimacy Coordinator hat es bereits gegeben, durchgeführt von culture change hub mit Unterstützung des BFFS, dem Medienboard Berlin-Brandenburg, der Moin Filmförderung, dem Österreichisches Filminstitut und Focal Schweiz.

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Intimacy Coordinator: Das ist ein neuer Beruf und ein neues Gewerk, das an der Filmproduktion beteiligt ist. Im Kern geht es darum, dass die Darstellung von Intimität und sexualisierter Gewalt für Schauspielerinnen und Schauspielern in einem sicheren Rahmen stattfindet und dass der Arbeitsprozess desexualisiert wird, weil Choreografien erarbeitet werden und die Betroffenen nicht mit ihren intimen privaten Erfahrungen arbeiten müssen. Und durch diese neue Arbeitsweise würden viel kreativere und weniger Stereotype Darstellungen von Sexualität entstehen, sagt Barbara Rohm von culture change hub.

„Die Einführung von Intimacy Coordinating in Deutschland als professionelle Begleitung und Betreuung der schauspielerischen Arbeit bei Intim-, Nackt-, Sexszenen halten wir für einen wichtigen Schritt, im Sinne der Prävention von Grenzüberschreitungen“, meint BFFS- Justiziar Bernhard Störkmann. Dabei sei es wichtig, dass in der Weiterbildung für angehende Intimacy Coordinator ein hoher Qualitätsmaßstab angesetzt werde. Künftige Intimacy Coordinatoren müsstene mit dem notwendigen Handwerkzeug für die optimale Unterstützung von Schauspielerinnen und Schauspielern ausgestattet werden, so Störkmann.

Es geht um Risikobegrenzung und Prävention. Und das Publikum muss die Gewissheit haben, dass das, was es an Sex, Nacktheit und sexualisierter Gewalt sieht, nicht auf Zwang, Nötigung und Gewalt beruht.

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