zum Hauptinhalt
Im Videospiel "What Remains of Edith Finch" wird der Spieler mit dem Thema Verlust konfrontiert.

© Giant Sparrow

Verlust in Videospielen: Spielt und fühlt ihr’s nicht?

Videospiele sind für vieles bekannt, kaum jedoch für die leisen Töne, die zarten Gefühle. Dabei können sie Emotionen wie etwa Trauer erfahrbar machen.

Der Punkt ist gekommen. Nach vielen Stunden des Charakter-Erstellens, dem Erleben von Abenteuern, nach all den Mühen ist der Punkt gekommen: Der geliebte Charakter stirbt. Eine Zwischensequenz zeigt den Spielern die tiefe Trauer der übrigen Spielfiguren. Danach geht es weiter wie zuvor. Gestorben wird in Videospielen sehr viel. Es ist Teil der Mechanik: Ihr seid an einer Stelle gescheitert? Versucht es nochmal! Das Ableben wird nicht groß inszeniert, die Spieler ärgern sich kurz, dann geht es weiter. Was gut funktioniert muss auch nicht verändert werden. Jedoch werden Videospiele immer diverser. Sie wollen emotionale Geschichten erzählen und erfahrbar machen. Aber gerade in den großen Blockbuster-Spielen wird Emotionen wie Verlust nur selten der passende Raum gegeben.

Der US-Amerikanische Philosoph Ian Bogost veröffentlichte kürzlich einen Aufsatz, in dem er postulierte, dass Videospiele sich davon verabschieden sollten, ein erzählendes Medium zu sein. Verglichen mit Filmen oder Romanen seien Geschichten in Videospielen immer zu flach. Denn das Medium habe es nie geschafft, den Aspekt der Interaktion wirklich auszuschöpfen. Die Welten, so Bogost, mögen zwar immer realistischer werden - die Figuren, die in ihnen leben, würden es nicht.
Bogost stellt einen großen Schwachpunkt vieler Videospiele heraus. Die Spiele, die versuchen Spielmechanik und Story zusammenzukleben, machen beide Elemente unflexibel.

Wären Videospiele wirklich interaktiv, müsste die Spielmechanik direkten Einfluss auf die Geschichte haben und andersrum. Fällt im virtuellen Krieg plötzlich der beste Freund, müsste das zu einer Kettenreaktion der Emotionen führen. Wird er jedoch nur verletzt, sollte er wenigstens danach humpeln.

Der Shooter Battlefield 1, erschienen Oktober letzten Jahres, spielt im Ersten Weltkrieg. Für die Kampagne des Spiels versuchten die Entwickler, eine Reflektionsebene in einzubauen. Daher werden nach jedem Tod einer selbst gesteuerten Spielfigur kurz die Lebensdaten eingeblendet. Geboren am, gestorben am. Mehr als ein kurzes Innehalten wird den Spielern jedoch nicht geboten. Es gilt, direkt weiter zu schießen.

Doch auch der Habitus der Spielfiguren selbst verändert sich durch Verlust kaum. Je mehr Freiheiten ein Spiel bietet, desto stärker fällt dieses Manko auf. Das Action-Rollenspiel Fallout 4, erschienen November 2015, etwa bietet den Spielern eine große, offene Welt. Sie können ihren eigenen Charakter erstellen, ganz nach ihren Wünschen das Aussehen formen. Auf der Suche nach dem verschollenen Sohn werden sie vom Verlust getrieben. Doch auf dem Weg zum Ziel bieten sich den Spielern viele weitere, kleine Geschichten. Diese Geschichten handeln häufig ebenso von Verlust. Überbleibsel einer untergegangenen Welt, der verzweifelte Versuch, in einer apokalyptischen Umgebung zu überleben – oft vergebens. Verändert wird der Spielcharakter dadurch jedoch nicht. Vielmehr dient er nur als ein Avatar, durch ihn wird die Welt erlebbar – die Welt jedoch spiegelt sich nicht in seinem Verhalten wieder.

Es gibt viele Arten von Verlust

Verlust kann sehr vielseitig sein. Tod, eine Verabschiedung, die Aufgabe von Idealen und Ideen. Laut Freud dient die Trauerarbeit der inneren Trennung vom Objekt der Begierde. Dieser Prozess ist schmerzhaft. Erinnerungen verblassen langsam, sie verklären sich. Die Trauer beendet sich schlussendlich selbst. Dann, wenn die Abtrennung vom Objekt vollzogen wurde, wenn die Arbeit an der Trauer vollbracht ist. Findet diese Trennung jedoch nicht statt, kann die Trauer zur Melancholie werden. Dann nämlich, wenn statt einer Loslösung vom Objekt das Selbst heruntergesetzt wird: Du hast Schuld am Verlust, du warst es nicht Wert. Diese Komplexität des Verlusts und der Trauer wird in Videospielen zu oft ausgeklammert. Doch gerade das Ablösen vom Objekt und das Hadern mit der Schuld könnten in einem Spiel erfahrbar gemacht werden. Zumal der Zwiespalt schon durch das Verhältnis der Spieler zur Spielfigur gegeben ist. Anders als etwa beim Lesen eines Romans, sind die Spieler selbst Handelnde. Sie steuern das Spiel und formen dadurch die Geschichte – sie könnten tatsächlich selbst Schuld haben.

Das Videospiel kann jedes andere Medium in sich aufnehmen und verändern. Ähnlich dem Wagnerschen Gesamtkunstwerk, das sowohl Drama, Musik, Tanz und bildende Kunst vereint. Das Drama findet sich in der Geschichte des Spiels wieder, die Musik im Soundtrack, der Tanz in der Performanz der Spielfiguren, die bildende Kunst im Design der Spielwelt.

“What Remains of Edith Finch“ ist aktuell das Beispiel eines Videospiels, das diese Gesamtheit anstrebt und sie erweitert – indem es die Spieler Verlust erleben lässt. Die Spieler steuern eine junge Frau durch ihr Elternhaus. Viele Generationen ihrer Familie haben in diesem Haus gelebt. Gemeinsam haben alle Familienmitglieder, dass ihr Ableben verfrüht war. Kurz nachdem der Bruder der Protagonistin starb, wurde das Haus fluchtartig verlassen. Jetzt, einige Jahre nach dem Vorfall, ist sie zurückgekehrt um mehr von den Umständen zu erfahren.

Die Spieler laufen durch dieses verwinkelte Haus, finden geheime Gänge durch die sie versiegelte Räume betreten. Entdecken sie spezielle Gegenstände – Fotos, Tagebücher, Zeichnungen – erleben sie in einer Rückblende die letzten Tage und Minuten der Familienmitglieder. Und an diesem Punkt zeigt sich die Stärke von Videospielen, ihr großes Potenzial: Andere Medien herbeizitieren, um sie dann erfahrbar zu machen. Denn plötzlich werden die Worte der Erzählerin zu fassbaren Gegenständen. Sie liegen auf dem Boden, fliegen einen Kamin hinauf, können von der Spielfigur durchbrochen werden. Dabei wird die Erzählung selbst immer wieder performativ verändert. In einer dieser Episoden wird die Spielfigur nacheinander zur Katze, Eule, zum Hai und dann Monster. Und jede dieser Formen steuert sich anders, fühlt sich anders an, hat eine andere Mechanik. Dann wieder werden die letzten Tage eines unter Depressionen leidenden jungen Manns erfahrbar. Während er in einer Fabrik arbeitet, verliert er sich in seinen Tagträumen. Auf der rechten Seiten des Bildschirms müssen die Spieler dem Alltag in der Fabrik nachgehen. Auf der linken Seite baut sich derweil die Traumwelt auf, die schlussendlich den Blick der Spieler voll einnimmt. Dennoch gilt es, beide Welten durch die Steuerung zu vereinen: Der rechte Daumen der Spieler steuert den Alltag, während der linke Daumen sich in der Traumwelt verliert. So entsteht eine innere Spannung in den Spielern selbst, die sonst nur im Protagonisten erahnt werden konnte.

Und immer wieder zum Schafott

“What Remains of Edith Finch“ möchte jedoch keine große, allumfassende Geschichte erzählen. Vielmehr erzählt es fragmentierte Geschichten. Das Spiel deutet nicht, es lässt die Spieler ahnend und fühlend zurück. Es lässt keinen Zweifel daran, dass jede Figur in jeder der einzelnen, kurzen Episoden zu ihrem Ende gesteuert wird. Die Spieler wissen, dass sie die Figur immer wieder aufs Schafott führen. Sie sind es schlussendlich, die das Leben der von ihnen gesteuerten Figur beenden. “What Remains of Edith Finch“ verändert den Zugriff auf die Erzählung, es lässt die Spieler selbst erfahren. Es bietet Raum und Zeit für diese Erfahrung, wo andere Spiele direkt weiterhetzen, mit ihrer eigenen Lautstärke die Emotionen ausblenden. Doch mild und leise fremde Schicksale zu erfahren – das könnte die große Stärke des Videospiels sein.

Dieser Artikel gehört zu einer Reihe von Texten, die sich mit Grenzen in und um Games auseinandersetzen. Alle Texte finden Sie hier: www.grenzgamer.com

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false