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Kabarettistin Lisa Eckhart

© dpa

Arte-Doku über Dekadenz: Vor der Himmelspforte

Zwischen Oscar Wilde und Lisa Eckhart: Eine Arte-Dokumentation widmet sich dem Thema Dekadenz.

Der Begriff steht eigentlich für sittliche Verwahrlosung. Genauer gesagt, das ausschweifende Leben der Privilegierten. Wilfried Hauke, bekannt durch Historien-Panoramen wie das sechsteilige Dokudrama „Der Luther-Code“, erweitert den Blick auf das schillernde Phänomen. Sein zweiteiliger Filmessay auf Arte spannt einen Bogen vom Untergang des Römischen Reichs bis hin zur Gelbwesten-Bewegung. Unterschiedliche Gesprächspartner, darunter Philosophen, Filmwissenschaftler und Historiker, beleuchten die Berauschung am Niedergang als ästhetisches, subversives und politisches Phänomen.

Einen Fokus richtet der Film auf das nordfranzösische Denain (Dekadenz: Sehnsucht nach Lust und Verfall. Kampf gegen den Untergang“, zwei Teile, Mittwoch, Arte, ab 21 Uhr 40). Seit der Schließung der dortigen Stahlwerke vor vier Jahrzehnten liegt die Stadt am Boden. Schuld am hier exemplarisch sichtbar werdenden sozialen Zerfall, so der preisgekrönte Fotograf Vincent Jarousseau, sei „die Dekadenz der Eliten“.

Der Hass vieler Franzosen gegen die Privilegierten drückt sich dementsprechend in der Bewegung der Gelbwesten aus. Das schmucklose Anti-Kleidungsstück unterstreicht die Ablehnung der bürgerlichen Hochkultur.

Zwischen dieser monochromen Tristesse und dem Straßburger „Café au fond du Jardin“ könnte der Gegensatz nicht größer sein. Hier lassen Frédéric Robert und sein Lebenspartner Laurent Renaud die Belle Epoque wieder aufleben. Die beiden Homosexuellen, seit zwanzig Jahren ein Paar, zelebrieren eine akribische Kultur der Verfeinerung.

„Wahre Liebe zum Exzess“

In Denain würde man ihre Inszenierung von Opulenz als dekadent und elitär empfinden. Doch diese augenzwinkernde Überzeichnung, so eine der Thesen des Films, dient in einer offenen Gesellschaft der Abgrenzung von Individualität.

Ein kunstgeschichtlicher Exkurs lässt unterdessen die Klassiker des Tabubruchs Revue passieren, von den Schriftstellern Oscar Wilde über Charles Baudelaire und Arnold Böcklin – bis hin zu dem angesagten Modeblogger David Roth. Auf dessen Partys suchen saturierte Berliner Szene-Flaneure den letzten Kick: „Wenn Sie hier hereinkommen“, so David Roth über eine seiner schrillen Performances, „stehen Sie vor der Himmelspforte“.

Diese Sehnsucht nach Exzess geht einher mit einer Untergangsstimmung, die auch Gegenbewegungen hervorruft. Der Film spürt daher auch einem radikaler werdenden Moralismus nach. Sind Straßenblockaden der Aktivisten von Extinction Rebellion ein Mittel gegen den Zerfall? Ist Umweltzerstörung „ein Menschheitsverbrechen“? Die Furcht vor dem Untergang, so der Film, „treibt viele zu einfachen Erklärungen“. Ausführungen von Annemarie Botzki, deutsche Sprecherin von XR, klingen zuweilen nach einer Predigt.

Statements von Lisa Eckhart, die der Film dagegen setzt, markieren erneut eine reizvolle Polarität. Die spitzzüngige Kabarettistin und Autorin, nicht zufällig eine „Liebhaberin der Dekadenz“, fordert Ausschweifung im Stile eines Georges Bataille: „Ich will so viel Sperma an den Wänden, dass es so aussieht, als sei eine Kuh explodiert“.

Diese „wahre Liebe zum Exzess“, die Lisa Eckhart mit verbalen Doppelsalti beschwört, bliebe immer öfter auf der Strecke. Menschen könnten den Genuss nicht wertschätzen, weil sie ihn in sozialen Netzwerken permanent mit anderen teilen. Die Aufzeichnung impliziert eine zeitliche Verschiebung – und damit letztlich eine Verhinderung von Genuss.

Solche Gedankenflüge erdet die Dokumentation mit einem politischen Kontext. Es gibt, so der Kunsthistoriker Jürgen Wertheimer, seit vielen Jahrzehnten eine „gefährliche Unterströmung der Dekadenz“. Extremisten sehen in der gesamten Demokratie einen Ausdruck des Niedergangs. Rechtpopulisten in Deutschland, Neofaschisten in Italien und anderswo diffamieren Toleranz und liberale Werte „als entartet“. Vertreter der Nazi-Elite, die sich als Künstler wähnten, sahen die wahre Kunst in der diabolischen Ästhetisierung der Massenauftritte.

Faschismus als „missverstandene décadence“? Nicht jede These in diesem mäandernden filmischen Mosaik überzeugt. Dennoch macht diese Arte-Dokumentation Lust auf die Lust am Untergang.

Manfred Riepe

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