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Lilly und er. Kommissar Murot (Ulrich Tukur) hat einen Gehirntumor. Lilly beschert ihm diesmal Musical-Visionen, darunter mit den Kessler-Zwillingen. Foto: HR

© HR/Carl-Friedrich Koschnick

Wahn und Krimi: Hier spricht Edgar Wallace

Ulrich Tukur dreht als „Tatort“-Kommissar wieder mal an der Zeitmaschine. So wird dem Schwarz-Weiß-Fernsehen ebenso gehuldigt wie dem Retro-Pop - und die Kessler-Zwillinge werfen die Beine.

Lilly ist ein Tumor. Gerade so groß wie eine Haselnuss. Lilly hockt im Kopf des LKA-Mannes Felix Murot und fühlt sich dort wohl. Das Gehirn des Kommissars ist für einen sensiblen Tumor wie Lilly ein wunderbares Zuhause, der Mann ist musikalisch, allen feinen Genüssen zugetan, er ist witzig und hat einen abwechslungsreichen Beruf. Außerdem spricht der Mann mit ihr, welcher Tumor findet schon so einen verständnisvollen Gastgeber? Diese Konstellation, dieser permanente Dialog zwischen Tumor und Mensch, ist der Ausgangspunkt für den ungewöhnlichsten Kommissar in der deutschen „Tatort“-Landschaft.

Murot ist ein Nostalgiker, ein Tief- und Zurückschauender. Diese ungewöhnliche Figur hat der Hessische Rundfunk im Dialog mit Ulrich Tukur entwickelt, der dem Kommissar viel von seinen Vorlieben und Empfindungen mit auf den Weg gibt. Die fabelhaften drei – Murot/Tukur und Lilly – werden nicht oft zu sehen sein, ein-, zweimal im Jahr tritt das Trio seinen Dienst an. In seinem ersten Fall hatte es Murot mit den Schatten der Vergangenheit zu tun, er tauchte tief in die gewaltsamen Geschichten der RAF ein. Auch dieses Mal lässt Murot die Gegenwart links und rechts liegen und springt in einen Kessel Nostalgie und alte Lieder.

Er verschwindet in einem Dorf im Hintertaunus, das aus allen Zeiten gefallen zu sein scheint. Ein alter Freund bittet den LKA-Mann um Hilfe. Ein Mord, klar! Und Korruption, Verschwörung, falsche Spuren. Als Murot endlich in dem Dorf ankommt, scheint der Fall bereits geklärt. Der Mörder hat sich selbst gerichtet, einen Abschiedsbrief hinterlassen, der das Mordmotiv enthält: Schnöde Erbstreitigkeiten. Murot tritt die Heimreise an, doch Lilly spielt verrückt, quatscht den Kommissar so zu, dass er mit seinem Wagen von der Straße abkommt und in den Wald rauscht. Murot trägt's mit Fassung, nimmt eine Mütze Schlaf und wacht erst am nächsten Morgen wieder auf. Da springt plötzlich der selbstmörderische Mörder durch den Wald, quicklebendig und offenbar auf der Flucht. Der Kommissar kehrt um und nimmt nun das Dorf, über dem ein hochherrschaftliches Schloss protzt und prunkt, genauer unter die Lupe.

Wer jetzt eine ordentliche, sonntagsübliche „Tatort“-Handlung erwartet, der wird schwer enttäuscht. Alles ist anders! Der Krimi wird hier zur Zeitmaschine, mit der Murot in einen Edgar-Wallace-Film katapultiert wird. Er stößt auf einen dubiosen Schlossherrn namens Bemering (Thomas Thieme), nach dessen Pfeife das ganze Dorf zu tanzen scheint. Die ebenso zwielichtige Ärztin Herkenrath (Claudia Michelsen) steckt mit dem barocken Machtmenschen unter einer Decke, und hinter jeder Wand lauert lauschend und spähend wie einst Klaus Kinski der finstere Mordgeselle Dietrich (Tobias Langhoff).

Der Film hat fast alle Farbe verloren, mit braunen, grauen und grünen Tönen wird der schwarz-weißen Ära des Fernsehens die Reverenz erwiesen. Wer sich auf diesen spielerisch ironischen Film einlässt, wird reich belohnt. Es gibt irre Szenen, die zwischen Traum, Wahn und Halluzination pendeln. Da wird dem Retro-Pop auf eine ungemein witzige Art und Weise gehuldigt, die legendären Kessler-Zwillinge werfen noch einmal ihre Beine und haben einen fabelhaft verruchten Auftritt. Diese Miniaturen werden im Rückblick zweifellos zu den Höhepunkten des Fernsehjahres zählen. Auch an den Psycho-Duellen, die sich Murot mit dem Schlossherrn Bemering liefert und die von den geschliffenen Dialogen des vielfach ausgezeichneten Drehbuchautors Daniel Nocke leben, kann sich der Zuschauer erfreuen. Sie können als Kommentar zur digitalen Betriebsamkeit gelesen, als Plädoyer für analoges Innehalten.

Ebenso ungewöhnlich ist die Arbeitsbeziehung, die Murot zu seiner Assistentin Magda Waechter (Barbara Philipp) unterhält, auch das sind Szenen für Liebhaber. Dazukommt die Regie von Justus von Dohnányi, der zeigt, dass er sich in der Filmgeschichte bestens auskennt. Dieser „Tatort“ ist ein Film, der von seiner fast morbiden Lust an der Vergangenheit lebt, es ist ein Schwelgen in Motiven unserer Fernsehkindheit: Schatten, Spinnennetze, falsche Wände, Verliese, Gucklöcher, Nebel und Seelen voller Nacht und Finsternis. Man kann das auch langweilig finden. Man kann sich aber auch entführen lassen aus dem „Tatort“-Land, das wir kennen. Vielleicht wird Murot der erste Kommissar sein, der es wagt, im Jenseits zu ermitteln. Mit Lilly hat er eine kundige Lotsin an Bord.

„Tatort: Das Dorf“, ARD, 20 Uhr 15

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