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Medien: Wo Danton stirbt

Medienrepublik (43): „Bild“, „Stern“ und „Spiegel“ sind die Sittenpolizei der Demokratie. Sie fassen fast jeden Übeltäter – zuletzt Gregor Gysi. Schade, dass es keine Richter gibt.

Von Harald Martenstein

Die wirklich großen Verbrechen werden meistens im n der Tugend begangen. Es schadet nichts, sich von Zeit zu Zeit an die Morgendämmerung der modernen Demokratie zu erinnern, an die Französische Revolution. Der Urvater aller tugendsamen, prinzipienfesten Politiker, genannt „der Unbestechliche“, der große Menschenerzieher und Flugmeilenverächter Robespierre, hat damals – mit den besten Absichten, was sonst – ein Terrorregime errichtet. Und der korrupte Hurenbock Danton, der sämtliche menschlichen Schwächen nur zu gut kannte, war bis in den Tod ein Verteidiger der Humanitas. Das sollte man sich ins Gedächtnis rufen, wenn man die „Bild“-Zeitung oder den „Spiegel“ liest.

Was bedeutet überhaupt Demokratie? Die Ersetzung der Willkür durch Regeln, durch das Gesetz, das für alle gilt, ohne Unterschiede. Nicht der Fürst, ein Diktator oder eine Partei haben das letzte Wort, nein, das Gesetz hat es. Das Gesetz ist dabei nicht etwa heilig oder ewig – eine Mehrheit kann es jederzeit ändern. Und die Gesetze werden pausenlos gebrochen oder umgangen, denn die Leute sind nun mal so. Damit muss man sich einerseits abfinden, und gleichzeitig auch wieder nicht. Die Regelverstöße und Gesetzesbrüche müssen pausenlos verfolgt, geahndet, angeprangert werden – denn wenn das nicht passiert, versinkt alles in Chaos und Willkür, und das Recht des Stärkeren oder Skrupelloseren regiert. Jeder Versuch aber, Verbrechen oder Mogelei restlos auszurotten, endet unweigerlich im Terror. Wer in der Demokratie lebt, muss also unser aller Schwäche und Fehlbarkeit einerseits heimlich akzeptieren, andererseits offen bekämpfen: Das ist schizophren. Aber es funktioniert ganz gut.

Nun aber zu den Flugmeilen und zu „Bild“. Die „Bild“-Zeitung tut mit ihren Enthüllungen nur das, was im demokratischen Spiel Aufgabe der Presse ist: Sie schaut den Politikern auf die Finger. Sie fällt dem Bundeskanzler auf die Nerven. Sie spielt die wichtige Rolle der vierten Gewalt. Dabei sei sie auf einem Auge blind, sagt der Bundeskanzler – na und? „Bild“ gehört zu einem Konzern, dem eine CDU-geführte Regierung im Großen und Ganzen lieber ist als eine SPD-Regierung. Das ist legitim und völlig ungefährlich, solange es in der Presse noch einen anderen Machtblock gibt, und den gibt es ja, noch haben sich „Spiegel“ und „Bild“ nicht zusammengeschlossen. Auch das funktioniert in Deutschland ganz gut: Die Balance zwischen „Spiegel“, „Stern“, „Süddeutscher Zeitung“ und so weiter auf der einen Seite, und dem Springer-Konzern, der „FAZ“ und so weiter auf der anderen Seite. Die Medien sind im Prinzip Allesfresser, wie man zuletzt am Sturz Scharpings sehen konnte, ausgelöst vom „Stern“. Aber die einen recherchieren halt doch am liebsten die Regelverstöße der Linken, die anderen die Regelverstöße der Rechten. Auch der „Spiegel“ hat, zum Beispiel in der Barschel-Affäre, versucht, mit Enthüllungen Wahlen zu beeinflussen – na und? Die Macht der Presse gehört zum demokratischen Spiel.

Warum haben manche trotzdem ein schlechtes Gefühl, zur Zeit, wo sich das Rad der Enthüllungen und der Rücktritte immer schneller dreht? Warum muss man an Robespierre denken, und an Dantons Tod auf der Guillotine? Es gibt keine Regeln. Es herrschen Willkür und Zufall. Das Enthüllungs- und Rücktrittskarussell dreht sich nicht nach demokratischen Gesetzen, sondern nach vordemokratischen. Es gilt das Recht des Stärkeren. Ob ein Politiker zurücktritt oder nicht, hängt vor allem von zwei Faktoren ab – dem Druck der Medien und seiner eigenen Dickfelligkeit. Kraft und Gegenkraft. Auf beides hat der Souverän, der Regelstifter, der Wähler, keinerlei Einfluss. Helmut Kohl, der den größten gedanklichen Regelverstoß begangen hat, den es in einer Demokratie geben kann – zu sagen, mein Wort steht über dem Gesetz –, er ist Abgeordneter geblieben. Gregor Gysi benutzt eine Lappalie, um ein Amt abzuschütteln, das ihm keinen Spaß macht. Cem Özdemir muss gehen, weil er zu einer Partei mit besonders hohen Moralansprüchen gehört, in einer anderen Partei hätte er vielleicht bleiben dürfen.

Auch der Druck der Medien ist eine variable Größe, abhängig vom subjektiven Faktor. Bei einem Politiker wie Jürgen Trittin, den viele Journalisten nicht mögen, weil sie ihn für arrogant halten, wird der Druck im Zweifelsfall größer sein als bei jemandem wie Norbert Blüm, den fast jeder mag. These: Für das, was Norbert Blüm vor ein paar Wochen zum Nahostkonflikt gesagt hat, hätte Jürgen Trittin zurücktreten müssen.

Wo ist die Transparenz in all dem? Welchen nachvollziehbaren, für alle geltenden Gesetzen gehorcht es? Wenn die „Bild“-Zeitung und der „Spiegel“ eine Art demokratische Sittenpolizei sind, die Übeltäter aufspüren – wer ist dann der Richter? Die öffentliche Meinung? Das Volksgericht? Wo stehen die Paragraphen? Es gibt bei dieser Art von Justiz, wie in den Revolutionsgerichten, nur zweierlei: Freispruch oder Höchststrafe. Verlust des Amtes oder erfolgreiches Aussitzen. Im normalen Arbeitsleben wird derjenige, der sich eine kleine Verfehlung geleistet hat, in der Regel nicht gleich entlassen. Da gibt es viele Facetten, vom ernsten Gespräch mit dem Chef über die Abmahnung bis zur Degradierung. Aber das Volk will angeblich Blut sehen. Will es das wirklich? Auf der anderen Seite ist dies die einzige Form von Rechtsprechung, in der es der Angeklagte ist, der die Dauer der Strafe bestimmt. Späth, Lambsdorff, Schäuble, Möllemann – nach einer Weile sind fast alle wiedergekommen, die zurückgetreten sind. Das ist natürlich völlig in Ordnung.

In einem Land, in dem ein Bankräuber acht Jahre im Gefängnis sitzt, wäre es unverhältnismäßig, sagen wir: Steuerbetrug mit lebenslänglichem Machtentzug zu bestrafen. Aber wer legt das Strafmaß fest? Es hängt vom jeweiligen Politiker ab – wann er selbst das Gefühl hat, genug gebüßt zu haben, wieder zumutbar zu sein. Sobald er sich wieder fit fühlt, kehrt der Affärenpolitiker zurück – und doch bleibt er, so winzig seine Verfehlung auch war, sein Leben lang dem verurteilten Bankräuber in einem Punkt unterlegen. Der Bankräuber kann sagen: Es gab ein Urteil, ich habe gebüßt, jetzt ist es vorbei. An dem Affärenpolitiker bleibt immer etwas hängen, weil es ja kein Urteil gab, keine Kriterien, keine Instanzen, nur Gefühle. Ob er wirklich wieder sauber ist, bleibt auf ewig Ansichtssache.

Demokratie heißt: feste Regeln. Durchschaubar. Für alle gleich.

Mediendemokratie aber heißt: permanente Revolution. Nicht das Gesetz entscheidet, sondern die Stimmung. Es müsste eine Art Ehrengericht für Politiker geben, einen Rat der Weisen und Alten, wie bei den Indianern. Aber das ist nicht durchsetzbar.

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