zum Hauptinhalt
Abgeschossenes deutsches Flugzeug, Aufnahme aus dem August 1941.

© Schmidt & Paetzel Fernsehfilme

Zweiter Weltkrieg: Ein ganz normaler Sommer in Moskau

Vor 80 Jahren fiel die deutsche Wehrmacht in der Sowjetunion ein. Ein Arte-Dokumentarfilm rekonstruiert die Stimmung der dortigen Bevölkerung 1941.

Es schien zunächst ein ganz gewöhnlicher Sommer zu werden. 80000 Zuschauer drängten sich ins Stadion, um das Fußballmatch Spartak gegen Dynamo zu sehen, den beiden besten russischen Mannschaften. Doch hinter den Kulissen herrschte bereits rege Geschäftigkeit. Friedrich Graf von der Schulenburg, seit 1934 deutscher Botschafter in der Sowjetunion, versuchte die Menschen in Moskau zu warnen: Schon bald würde die gefürchtete deutsche Wehrmacht über ihr Land überfallen - und zwar trotz des Nichts-Angriffspaktes, den Stalin und Hitler unterzeichnet hatten. Doch niemand glaubte dem besorgten Diplomaten.
Die privaten Aufzeichnungen von der Schulenburgs ergänzt Artem Demenok mit zahlreichen Briefen und Dokumenten, in denen Moskauer Bürger facettenreich ihren Alltag schildern. Der seit 1990 in Deutschland lebenden Dokumentarfilmer, für "Welthauptstadt Germania" mit einem Grimme-Preis ausgezeichnet, illustriert so das unbeschwerte Leben von Studenten, Krankenschwestern und Politkommissaren.
Zu den teilweise pittoresken Archivmaterialien zählt eine Szene, in welcher der berühmte Filmemacher Sergej Eisenstein die Dreharbeiten zu einem sowjetischen Propagandafilm besucht. Das Herzstück von "Moskau 1941 - Stimmen am Abgrund" bildet jedoch der Blick in die Seele von Durchschnittsbürgern (Ausstrahlung auf Arte am 24.8., 20 Uhr 15).

Die Sowjetunion war auf Hitlers Angriff nicht vorbereitet

Irina Filimanowa, eine 20-jährige Studentin, schwärmt von ihrer ersten Dauerwelle. Nun fühle sie sich erwachen. Ein 16-jähriger Schüler sieht einen schwülstigen Liebesfilm. Danach vertraut er seinem Tagebuch an, wie sehr er sich eine Frau wünscht. Unterdessen werden an der staatlichen Schule für Zirkuskunst Abschlussprüfungen absolviert. Ein junger Artist springt einen Rückwärtssalto - auf dem Drahtseil. Diese skurrilen Bilder sind zugleich eine Metapher für die Art und Weise, wie die Sowjetunion in diesen Krieg hineinstolpert. Denn als am 22. Juni Hitlers Wehrmacht ohne Vorwarnung ins Land einmarschiert, kippt die Stimmung in Moskau radikal. Das Vorrücken der als unbesiegbar geltenden deutschen Armee löste eine hektische, planlos erscheinende Mobilmachung aus: "Die militärische Ausbildung", so der Politkommissar Piotr Pschenitschny, "begann mit dem Studium der Dienstvorschriften". Auch die Intellektuellen schworen sich auf den Krieg ein. "Ich arbeite fleißig an meinem Theaterstück", notierte der Schriftsteller Arkadi Perwenzew. "Vielleicht feuere ich damit einen Schuss ab für mein Land". Doch diese Form der geistigen Mobilmachung stieß auch auf Skepsis: "Es ist unwahrscheinlich", so der Literaturwissenschaftler Leonid Timotejew, "dass unsere Doktoren der Philologie mit Fallschirmjägern fertig werden". Nacht für Nacht wurde Moskau inzwischen von der deutschen Luftwaffe bombardiert. Die Zahl der Opfer hielt sich in Grenzen. Propagandafilme zeigen, wie Frauen deutsche Brandbomben ganz unbekümmert mit Wassereimern löschen.

Die Stimmen fügen sich zum faszinierenden Chor

Um die Normalität in dieser Ausnahmesituation aufrecht zu erhalten, wurde die Festsitzung angesichts des 24. Jahrestages der Oktoberrevolution kurzerhand in die U-Bahn verlegt. Das sei, so der Kameramann Mark Trojanowski, der die flammende Rede Stalins auf Zelluloid bannte, ein Triumph über die Faschisten. In der Nacht zum 16. Oktober sah es schließlich so aus, als stünde Moskau vor dem Fall. "Hätten die Deutschen gewusst, was in der Stadt los ist, hätten sie die Stadt mit 500 Fallschirmjägern erobert", notierte der junge Georgi Efron in sein Tagebuch. Intime Notizen dieser Art fügt der Film zu einem Chor von Stimmen, die man so noch nicht gehört hat. Tagebucheintragungen geben einen ungeschminkten Einblick in die Lage. Derartige Zeugnisse sind eine Seltenheit. Denn wer schrieb, machte sich in der totalitären Sowjetunion grundsätzlich verdächtig. Aus Angst vor Durchsuchungen, Verhaftungen oder Beschlagnahme durch Politkommissare wurden solche Aufzeichnungen daher meist vernichtet. "Moskau 1941 - Stimmen am Abgrund" ist ein vielstimmiges Mosaik aus Stimmungen, privaten Reflexionen und Seitenblicken auf den sowjetischen Alltag. Der Sieg über die deutschen Streitkräfte wird sichtbar gemacht als enorme Kraftanstrengung, die jedoch völlig unheroisch erscheint.

Manfred Riepe

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false