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Panorama: Als das Feuer laufen lernte: 1.August 1936: Siegfried Eifrig trägt das olympische Feuer nach Berlin - Seitdem gibt es das Ritual

Herzberg an der Elster, irgendwann im Jahr 1947. Aufgeregt tastet Siegfried Eifrig nach dem Koffer, den er acht Jahre zuvor unter der Kegelbahn versteckt hat.

Herzberg an der Elster, irgendwann im Jahr 1947. Aufgeregt tastet Siegfried Eifrig nach dem Koffer, den er acht Jahre zuvor unter der Kegelbahn versteckt hat. Als er den Koffer versteckte, damals, 1939, ahnte er nicht, dass seine Frau sterben würde und er sich um die drei Kinder kümmern müsste. Er wusste nur: Es ist Krieg, und ich muss diesen Koffer retten. Und nun ist Siegfried Eifrig voller Angst, es könnte etwas aus dem Koffer verschwunden sein, in den acht Jahren, in denen er unfreiwillig um die halbe Welt gereist ist. Er ertastet den braunen Kunststoffkoffer, hebt ihn empor und öffnet ihn wie eine Schatztruhe. Endlich kann er ihn wieder greifen, den silbernen Schaft, ihn drehen und die Inschrift betrachten: "Aus Dank dem Träger". Es steht da noch. Darunter: "Stiftung der Krupp AG Essen": Dazwischen setzt der Adler noch immer seine Krallen auf die Olympischen Ringe. Und auf dem Schaft thront ein Rest von rotem Wachs.

Der Anblick erfüllt Siegfried Eifrig mit Stolz. In ein paar Jahrzehnten werden die Menschen wegen des roten Wachses zu ihm kommen. Nicht einmal das Blatt Papier ist vergilbt. Die "Urkunde über die Teilnahme an dem Fackel-Staffel-Lauf. 20.7. - 1.8.1936. Herrn Siegfried Eifrig." Unterschrieben vom "Organisationskomitee für die XI. Olympischen Spiele Berlin". Auch das ärmellose weiße T-Shirt liegt noch im Koffer. Ein schwarzer Kreis genau in der Mitte, zwischen Brustkorb und Bauch, darauf das Hakenkreuz.

Das Versteck, das Eifrig 1939 wählte, liegt in seinem Heimatdorf. Freunde seiner Eltern betrieben dort eine Gaststätte. Als Siegfried Eifrig nur wenig Zeit zum Überlegen blieb, was er vor dem bevorstehenden Krieg retten sollte, packte er die Fackel, die Urkunde und das T-Shirt in den Koffer. Und die Suche nach einem sicheren Ort führte ihn zurück in die Heimat, die seine Eltern schon 1910 verlassen hatten. Dann war Eifrig im Glottertal bei Freiburg stationiert, er hat im französischen Savigny gekämpft und in Leningrad. 1942 starb seine Frau an Schwindsucht, ein Jahr lang kümmerte er sich um die drei Kinder. Dann Pescara an der Adriaküste, britische Gefangenschaft in Ägypten. 1947 konnte er zurückkehren zu seiner Familie und in die Freiheit. Und zu seinem Koffer.

Warten, bis Goebbels spricht

Die Strecke, die er an jenem wunderbaren 1. August 1936 mit der Fackel lief, geht Eifrig noch heute manchmal entlang. Jene 1500 Meter von Berlin, zwischen der damaligen Sowjetischen Botschaft und der Schlossbrücke, lief er an der Spitze der Eskorte. Früher, als er 400 Meter in 49,8 Sekunden schaffte, brauchte er exakt fünf Minuten. Und wenn er jetzt, nach 64 Jahren, noch einmal lossprinten würde, könnte es kein anderer Neunzigjähriger mit ihm aufnehmen. Auch sein Erinnerungsvermögen scheint besser zu sein als das anderer Neunzigjähriger, manchmal. Es sei fünf vor zwölf gewesen, als er vor der Sowjetischen Botschaft den Vorläufer mit der Fackel erwartete, genau fünf vor zwölf. Aufgeregt begab sich Eifrig in die Mitte der Allee. Dort, so war befohlen worden, sollte er starten. Dann bis zum Lustgarten laufen. Dann warten, bis Goebbels spricht. Dann auf dem kleinen Altar die Flamme entzünden. Dann zum Großen Altar auf der Schlossbrücke laufen. Dann warten, bis seine Fackel erloschen ist.

Dass ausgerechnet er ausgewählt worden war, mit der Fackel zu laufen, im ersten Fackel-Staffel-Lauf der Olympischen Geschichte, erklärt Eifrig mit seinem Laufstil. Eine gute Figur habe er in seinem Verein, dem SC Charlottenburg, gemacht. Außerdem sei er immer der Schnellste gewesen. Während er auf dem Mittelstreifen Unter den Linden noch wartete, säumten bereits 120 000 Menschen die Straßen. Die Stimmung sei fröhlich gewesen, nicht bedrückt, sagt Eifrig. Die ganzen Olympischen Spiele erlebte Siegfried Eifrig als sehr fröhlich. So etwas habe die Welt bis dahin nicht erlebt.

Die Welt, die so etwas noch nicht erlebt hatte, zog hitlergrüßend ins Olympiastadion ein. Das nationalsozialistische Regime nutzte die Gelegenheit, das Ausland von der Fairness und dem sportlichen Geist des Deutschen Reichs zu überzeugen. Hundert Millionen Reichsmark gaben die Nationalsozialisten für ihr Spektakel aus, schätzte die "New York Times".

Es war die Idee von Organisationschef Carl Diem gewesen, einen Fackellauf einzuführen. Diem war seit der Weimarer Republik Generalsekretär des "Deutschen Reichsausschusses für Leibesübungen" gewesen. Für die Nationalsozialisten kümmerte er sich um die Sportpropaganda.

Es funktioniert noch immer so, wie Diem es sich ausgedacht hatte: Seit 1936 entzündet vor den Olympischen Spielen eine Griechin im Gewand einer Oberpriesterin das Olympische Feuer. Das Ritual mit einem Parabolspiegel, der Sonnenstrahlen bündelt, findet an heiliger Stätte statt: im antiken Olympia, von wo aus die Flamme zum Austragungsort gebracht wird. Die meisten vermuten hinter der Olympischen Fackel ein antikes Ritual göttlichen Ursprungs. Aber bei den antiken Spielen brannte nur ein Feuer; einen Fackellauf gibt es erst seit 1936. Das Heilige daran hat man übernommen, das Nationalsozialistische hat man vergessen.

Gerade hat das Ritual wieder stattgefunden, seit dem 10. Mai ist die Fackel auf dem Weg nach Sydney. Sie fährt mit dem Schiff, sie fliegt. Manchmal wird sie auch getragen von Männern wie Siegfried Eifrig. 1936 gab es nur den Transport auf dem Landweg. Von Olympia nach Athen, Delphi, Thessaloniki, Sofia, Belgrad, Budapest, Wien, Prag und Dresden.

Und am 1. August um fünf vor zwölf trug Siegfried Eifrig die Fackel nach Berlin. Es habe wohl genieselt, der Himmel sei grau gewesen. Siegfried Eifrig hat es später in der Zeitung gelesen. Während er lief, bemerkte er davon nichts. Vor der Neuen Wache, die damals das Ehrenmal für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges war, hätte er eine Pause einlegen sollen. Aber er war zu langsam, ein Mann in Uniform gestikulierte mit dem Taschentuch. Weiterlaufen! Das Ehrenmal trägt heute eine Tafel mit der Inschrift: "Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft".

Er sei in keiner Partei gewesen, erzählt Eifrig, kein Nazi, einfach Sportler. Wie Leni Riefenstahl, die war Künstlerin. Einen Hauch zu schnell wehrt er sich gegen die Frage. Ein bisschen ist es, als ärgere er sich darüber, dass er seinen Fackellauf nicht in irgendeine andere Epoche hineinzaubern kann. Aber natürlich sei er stolz gewesen, für Deutschland mit der Fackel zu laufen. Stolz, dass alle fasziniert waren von diesem Fackellauf. Dass der Fackellauf noch heute existiere, sei ganz natürlich, findet Eifrig. Das Feuer, das seit 1936 in jedes Olympische Stadion getragen wurde und das auch nach Sydney getragen wird! Jenes aus griechischen Sonnenstrahlen, die vor jedem Spiel neu gebündelt werden. Jenes aus dem antiken Olympia, wo alles begann.

Eifrigs Lauf näherte sich dem Ende, als er am Zeughaus vorbeilief. Von hier an sperrten Zäune die Zuschauer aus. Während Eifrig lief, dem Höhepunkt seines Auftritts entgegen, hörte er Raunen. Vor dem Alten Museum wartete spezielles Publikum auf die Fackel. Lauter Jungs, Jungs aus Jugendlagern. Ja, auch aus der HJ. Sie hätten gejubelt, Hurra geschrien. Ja, auch Heil hätten sie geschrien. Eine goldene Schale auf dem kleinen Altar wartete auf das Feuer. Zehn Meter davor, auf der Treppe des Alten Museums, warteten Rudolf Hess, Joseph Goebbels und Reichssportführer von Tschammer und Osten darauf, dass es zwölf schlug. Den Altar erreichend, wartete Eifrig darauf, dass Goebbels spricht. "Heilige Flamme, blühe und erlösche nie!", dröhnte Goebbels.

Auch wenn dieser Satz heute nicht mehr gesprochen wird - an den Befehl hält die Flamme sich heute noch. Er sei nicht aufgeregt gewesen, sagt Eifrig, die Prominenz habe ihn nicht eingeschüchtert. Mochte Goebbels der zweitwichtigste Mann im Deutschen Reich gewesen sein, aber Eifrig habe ja ansonsten keinen Kontakt mit ihm gehabt. Wieso sollte er also zu ihm hinübersehen? Nicht einen Blick habe er auf Goebbels geworfen.

Danach zog sich Eifrig um und marschierte nach Hause. Eine Eintrittskarte für die Olympischen Spiele bekam er nicht. Die Fackel mit dem Rest von rotem Wachs hielt er allerdings in seiner Hand, als er zu seiner Wohnung in der Königin-Elisabeth-Straße 54 in Charlottenburg lief. Und die Menschen erkannten ihn.

Ein Großvater, wie ihn Kinder lieben

Heute wohnt Eifrig in Zehlendorf, umgeben von Seen. Er lebt allein in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung. Und meistens nur in der Wohnküche, in der er isst, am Schreibtisch sitzt, auf der Couch liegt. Wo die Bilder an den Wänden hängen, Bilder seiner Kinder und Enkelkinder. Und Bilder aus seinem Leben. 1926 ließ Eifrig sich zum Bankangestellten ausbilden. Dann Weltwirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit. Dann eine Stelle bei der Preußischen Staatsbank. Dann der Krieg und die Gefangenschaft in Ägypten. Im Lager gründete er eine Musikgruppe und organisierte Fußballturniere. Dann Arbeit bei der britischen Militärverwaltung in Berlin als Dolmetscher. Dann Berliner Sparkasse, Hauptabteilungsleiter.

Siegfried Eifrig ist ein Mann, wie ihn sich jedes Kind als Großvater wünscht. Dynamisch, sportlich, jugendlich, humorvoll. Ein Neunzigjähriger, der ein eng anliegendes Hemd trägt und braune Cordhosen, aber ultramoderne Turnschuhe von Nike. An der Wand hängt auch die Urkunde, die ihn als Fackelläufer von 1936 auszeichnet. Gerahmt. Gegenüber thront auf einem Regalbrett die Fackel. Als der Leiter des Berliner Sportmuseums ihn überreden wollte, die Fackel zu spenden, sagte Eifrig Nein. Er will den Gegenstand, den er in dem Koffer unter der Kegelbahn versteckt hat, nicht weggeben. "Ich habe dem Leiter des Museums gesagt: Nach meinem Tod könnt ihr das Ding haben. Aber solange ich lebe, möchte ich es vor mir haben."

Als ihn vor drei Jahren das ZDF interviewte, sollte er die Fackel ins Studio mitbringen. "Ich kannte keine der Fragen vorher. Die waren auf das Politische aus. Aber ich habe es ganz gut gemeistert", sagt er. Auch das japanische Fernsehen war bei ihm in Zehlendorf. "Die Leute interessieren sich für mich wegen meiner Vergangenheit", sagt Eifrig, und: "Dieser Lauf war der Höhepunkt meines Sportlerlebens." Er war auch der Höhepunkt seines Vereins. "Für den SC Charlottenburg bin ich ein Aushängeschild", sagt er. Ein Bild des Fackelläufers Eifrig schmückte die Urkunde, die der Verein für den Langstreckendreikampf des Jahres 1978 ausstellte. Vorneweg läuft Siegfried Eifrig mit der Fackel. In der Mitte seines T-Shirts ein schwarzer Kreis genau in der Mitte, zwischen Brustkorb und Bauch. Darauf kein Hakenkreuz. Sondern ein Adler. Das Hakenkreuz ist verschwunden.

Olga Havenetidis

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