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Panorama: Bloß verschwinden

Die No Angels haben beim Eurovision Song Contest mit „Disappear“ den letzten Platz belegt – strahlender Sieger ist der Russe

14 Jahre hat es gedauert, in Belgrad hat es endlich geklappt: Russland gewinnt mit Dima Balan und dem Titel „Believe“ zum ersten Mal den Eurovision Song Contest. Deutschland wurde mit den No Angels schwer abgestraft und landete auf dem letzten Platz. Der russische Beitrag wartete mit allem auf, was zur Zeit gut und teuer ist: der beliebteste Sänger, ein ungarischer Stargeiger und als optische Draufgabe ein Eiskunstlauf-Olympiasieger – und, sicher nicht ganz billig, der Feinschliff wurde dem Siegertitel von Starproduzent Timbaland verpasst. Sänger Dima Balan hat gezeigt, was man mit Geld alles erreichen kann. Er zeigte aber auch eine sichere Performance, er hatte schon 2005 hinter den finnischen Spaßrockern Jordi den zweiten Platz belegt. Das modische Soundkleid konnte durchaus gefallen, hob sich aber nicht von der erstaunlich hohen Qualität der konkurrierenden Songs ab.

Russland also vor den ukrainischen Nachbarn und Griechenland, Armenien auf dem vierten und das erstmals teilnehmende Aserbeidschan auf dem siebten Platz rundeten das erstaunliche Ergebnis der Staaten der ehemaligen Sowjetunion ab. Die westlichen Grand-Prix-Länder schafften es teilweise nicht einmal bis ins Finale, Irland, die Niederlande, Belgien waren in der Vorrunde ausgeschieden. Deutschland, England, Spanien und Frankreich waren wie immer als größte Beitragszahler der Eurovision automatisch qualifiziert; ob das einen Vorteil darstellt, darf diskutiert werden. England fand sich am Ende mit Deutschland und Polen auf dem letzten Platz wieder, die witzigen Songs aus Frankreich und Spanien landeten im hinteren Mittelfeld.

„Disappear“ sangen die vier No Angels, und irgendwie ist der Song tatsächlich bei den Zuschauern sofort im Nebel des Vergessens versunken – bei 43 Votings gab es 41 Mal null Punkte, die netten Nachbarn aus der Schweiz vergaben zwei Mitleidspunkte. Volle zwölf Punkte kamen aus Bulgarien, weil Sängerin Lucy Diakovska dort geboren und aufgewachsen ist. Stimmlich war jedoch vieles recht wackelig und lag bedenklich neben dem Ton. Eine große Live-Band werden diese Engel wohl nicht mehr werden.

Nach Angaben der ARD lockte die Show 6,38 Millionen Menschen (Marktanteil 27,9 Prozent) Zuschauer – eine Million weniger als 2007. Mehr als hundert Millionen Zuschauer insgesamt verfolgten den Wettbewerb, der sogar in Australien ausgestrahlt wurde.

Es klingt nach Verschwörungstheorie, es ist auch eine, aber eine, die stimmt: Sieht man vom deutschen Beitrag ab, hat die musikalische Qualität der Songs mit dem Abschneiden immer weniger zu tun. Die Osteuropäer schustern wie immer den Nachbarn die Punkte zu, da ist es schon überraschend, dass das ohne große Lobby angetretene Norwegen mit dem hübschen Soulschlager „Hold on, be strong“ einen starken fünften Platz belegt.

Im Gegensatz zu vergangenen Jahren zeichnete sich Belgrad durch eine gute bis sehr gute Qualität der musikalischen Produkte aus. Grobe Peinlichkeiten gab es keine, die Bandbreite war groß und reichte von der klassischen Ballade über Euro-Pop, spaßige Dance-Sounds, türkischen Hauruck-Rock bis zur opulenten Prog-Rock-Inszenierung des überraschenden Debütanten Aserbeidschans. Die Spitze des schlechten Geschmacks kam diesmal aus Lettland, albern kostümierte Piraten, die einen Dumpfbacken- Beat grölten, der sich frühestens mit 2,5 Promille aushalten lässt – und, es muss gesagt werden – wer die unfassbar artifiziell wirkende Schwedin Charlotte Perrelli gesehen hat, wird wohl für immer die Finger von Schönheits-OPs lassen.

In Sachen Outfit galt: Weniger ist mehr, sowohl bei den Damen als auch bei Herren. Gut geölte Stimmbänder allein reichen bei derlei Veranstaltung längst nicht mehr, der gestählte Body gehört zwingend dazu. Schon um die im Trend liegenden Bodenturn-Übungen zu bewältigen. 2009 wird der ESC dann also in Moskau stattfinden, man darf gespannt sein, ob das Finale bei den aktuellen Regeln überhaupt noch jemals in ein westeuropäischen Land vergeben wird. Dafür spricht wenig.

Der bei Weitem beste Beitrag des Abends startete außer Konkurrenz – der serbische Superstar Goran Bregovic zeigte mit seiner Wedding & Funeral Band, was sich aus traditioneller Folklore alles machen lässt und verwandelte die Halle in einen dampfenden Tanztempel.

Jörn Wöbse

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