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Wie steht's um uns Deutsche in Europa? Helmut Schümann umrundet unser Land mit dem Rucksack auf dem Rücken.

© privat

Deutschland drumherum (8): Das Los der tschechischen Provinz

Von Frydlant aus wandert Helmut Schümann weiter durch Tschechien. In dem etwas trostlosen Ort Krupka im Erzgebirge wird ihm nicht nur ein unmoralisches Angebot gemacht.

Der Charme der tschechischen Grenzregion verblasste in Usti da Labem. Ich hatte mich nach dem Erleben einer glatzköpfigen, krakeelenden Jungmännerhorde auf dem Bahnhofsvorplatz auf einer Bank in einem kleinen Park gesetzt. Zum Tagesziel Krupka waren noch etwa zehn Kilometer zu gehen, zudem durch das Übel der Hügel des Erzgebirges, eine Pause war berechtigt. Eine alte Frau kam daher. Sagte irgendetwas, was ich nicht verstand, sie wollte wohl Platz nehmen auf der Bank neben mir. Sie war ordentlich gekleidet, nicht, was man in Berlin, Paris, London, New York den letzten Schrei nennen würde, aber sie fiel nicht ab in Usti da Labem. Außer durch ihre vielen Warzen im Gesicht. Sie mochte vielleicht siebzig gewesen sein, vielleicht 68, vielleicht 72. Nachdem sie mitbekommen hatte, dass ich aus Deutschland komme, sprach sie Deutsch. Erzählte, dass sie dort gearbeitet habe, viele Jahre. Aber das war nur die Einleitung, Entschuldigung, das Vorspiel. Dann sagte sie übergangslos, dass sie seit zehn Jahren alleine sei,  „keinen Mann mehr“. Und ob ich denn auch alleine sei. Es wurde unangenehm.

„Nein“, sagte ich, „nicht allein.“ Sie berührte mein Knie. „Aber hier in Tschech allein, komm, Liebe machen, hundert Kronen.“ Hundert Kronen sind etwas weniger als vier Euro. „Nein“, sagte ich. „Erst trinken Kaffee, da drüben“, sie zeigte auf ein Café auf der anderen Straßenseite, „danach machen Liebe.“ Ich trage Münzen immer in der linken Hosentasche, warum auch immer, eine Angewohnheit. Ich kramte in meiner linken Hosentasche, nahm hundert Kronen, hundert Kronen ist die größte Münze in Tschechien, glaube ich, ich gab der Alten die Münze und ging. Nach 50 Metern drehte ich mich noch einmal um, sie schlurfte davon, die Chuzpe sie zu fotografieren hatte ich nicht. Ich ging nach Krupka.

Krupka als die Perle des Erzgebietes zu bezeichnen, wäre nicht nur leicht euphemistisch. Krupka ist hässlich, ist verfallen, von den Häusern blättert der Putz, die Scheiben der Häuser sind grau, um 18:00 Uhr schließen die Läden, dann ist kein Mensch mehr auf Krupkas Straßen zu sehen. Um 17:30 Uhr saß ich vor dem Hotel Horald am Hauptplatz von Krupka und trank einen Kaffee. Der war gut nach wieder über zwanzig Kilometern zu Fuß. Ich schaute auf die verfallende Kirche. An den Nebentisch setzten sich zwei junge Mütter mit ihren Kinderwägen, eine Tochter, ein Sohn, beide höchstens ein Jahr alt. Die plärrten, wie Kinder um die Uhrzeit eben plärren. Als eine der Mütter noch schnell zum Geldautomaten ging, plärrten beide Kinder noch lauter und die andere Mutter lachte, als wollte sie sagen, und nun? Eine junge Frau kam daher, sehr hübsch, ein großes Kreuz trug sie an einer Halskette vor der Brust und ging ins Hotel Horald. Ich, der Vater des inzwischen Postpostpubertisten, wollte helfen, versuchte das eine Kind zu beruhigen, damit die verbleibende Mutter das andere Kind beruhigen konnte. Mein Versuch gelang. Etwa, dreißig Sekunden, das Gör verstand wohl kein Deutsch. Dann kam die andere Mutter zurück, alles wurde friedlich, die beiden, die vier, gingen. Ins Gespräch waren wir nicht gekommen. Mürrisch ist die Grundstimmung, die ich wahrnehme seitdem ich den Bummelzug verlassen habe.

Ich schaute noch ein wenig auf die ruhige Stadt, kein Mensch auf der Straße. Die einst so stolze Kirche sieht wirklich verfallen aus. „Zwanzig“, sagte eine Stimme hinter mir.  Ich drehte mich um. 20 erschien mir selbst in diesem Land, wo ein Bier maximal 21 Kronen kostet, zu billig für einen Kaffee und ein Bier. In der Tür des Hotels Horald stand die sehr hübsche Frau mit dem sehr großen Kreuz an der Halskette. „Wie, machen Sie zu“, sagte ich, „ich hatte Kaffee und Bier..“  Sie lächelte. „Nein, nein, zwanzig für Liebe, ich schlafe hier im Hotel, der Wirt ist mein Partner, du willst Liebe?“ Ich sagte, dass ich zahlen will. „30 Kronen für Getränke“, sagte sie, „aber 20 für Liebe“. Ich hoffe, dass sie für letzteres wenigstens Euro meinte. „Foti, foti“, war das letzte was ich von ihr hörte, nachdem ich noch einmal ins Hotel Horald gegangen war und ein, allerdings unscharfes Bild, aufgenommen hatte. 

Ich war froh, dass das Hotel Horald kein Wi-Fi hat, ich hätte mich dort sonst eingebucht. Jetzt bin ich im Hotel Cavaliere. Hat Wi-Fi. Um 19:30 Uhr aß ich dort, sehr gut, böhmische Küche. Um 19:50 betraten zwei junge Männer das Hotel. Im Schlepptau eine zu blonde, zu junge Frau. „Zimmer 209 habt ihr“, sagte sie. „Bis gleich, muss noch arbeiten.“ Was ist eigentlich los in diesem Land?

Das Frühstück am nächsten Morgen, serviert im dunklen Gastraum, die jungen Männer verlassen eilig das Haus, die zu blonde, zu junge Frau ist nicht mehr zu sehen. Eine alte Frau mit fettigem Haar zeigt mir Kaffeepulver, ich nicke, sie stellt den Kaffee weg und bereitet mir einen Instantkaffee. Dazu gibt es zwei Scheiben Brot, eine Scheibe Schmelzkäse, eine Scheibe Fleischwurst. Die Frau mit dem fettigen Haar sitzt am Nebentisch, löst Kreuzworträtsel, raucht. Ich habe nichts gegen Raucher. Als ich noch eine zweite Tasse Kaffee möchte, schüttelt sie den Kopf. Ich halte ihr die Münzen hin. Sie nimmt 30 Kronen und brüht Instant auf. Ich mache mich auf den Weg. Mürrisch. Ist das ansteckend?

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