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Panorama: "Dostojevskij Trip...": Droge. Rausch. Text.

Vielleicht ist Literatur tatsächlich nie etwas anderes gewesen als eine Droge. Jene Literatur, die man ganz freiwilllig liest, die man verschlingt, für die man die Zeit vergisst, im Dämmerlicht der Bibliotheken, nachts im Bett, in einem ungemütlichen Zugabteil.

Vielleicht ist Literatur tatsächlich nie etwas anderes gewesen als eine Droge. Jene Literatur, die man ganz freiwilllig liest, die man verschlingt, für die man die Zeit vergisst, im Dämmerlicht der Bibliotheken, nachts im Bett, in einem ungemütlichen Zugabteil. Jede anderslautende Wirkungsästhetik war nur hohles Aufklärungsgerede. Literatur berauscht ihren Leser, sie versetzt ihn in andere Bewusstseinszustände, sie verwandelt sein Gefühl und seine Erfahrung - oder sie verdient ihren Namen nicht.

Vladimir Sorokin, der zuletzt mit seinem Roman "Himmelblauer Speck" den Irrsinn der Geschichte des 20. Jahrhunderts literarisch zu überbieten wagte, spielt diese radikale Hypothese in einem neuen Theaterstück durch. Der "Dostojevskij Trip" ist eine Pille, die sieben auf der Bühne versammelte Junkies von ihrem Dealer ausgehändigt bekommen. Die Figuren haben bereits eine Menge Erfahrung mit harten Drogen. Sie haben in Zürich Genet, Celine, Sartre eingeworfen, am Londoner Flughafen Cocktails aus Cervantes und Huxley gekauft, sind nach dem Genuß eines Thomas Mann-Trips mit furchtbaren Leberschmerzen erwacht.

Kurz nach Einnahme der Dostojevskij-Pille sind alle mitten im Roman "Der Idiot" gelandet. Direkt in jener Szene, die noch kein Dostojevskij-Kenner ohne innere Gefühlswallungen gelesen hat: wenn nämlich der Kampf der Liebhaber um die schöne, aber frühkindlich missbrauchte Nastasja Filipovna seinen Höhepunkt erreicht. Wenn die rasende Nastasja allen Männern auf der Nase tanzt und schließlich hunderttausend Rubel in den Kamin schleudert, was die Anwesenden vollends in schäumende Tiere verwandelt.

Aber Sorokin hat seinen Ruhm als literarischer Terrorist nicht zu Unrecht erworben: die Exzesse eines Dostojevskij sind zu überbieten. Sorokin treibt die energetische Ladung der berühmten literarischen Szene weiter hinauf, auf die Gipfel des Monströsen, wo sich zuerst der Geist und dann auch die Körper aufzulösen beginnen. Auf der Bühne fallen die letzten Fassaden der Vernunft, im Dostojevskij-Rausch entblößen die Figuren ihr innerstes Korsett, das ein wehes, wahnsinniges Chaos aus Wunden und Wünschen ist. Die Kernthemen des Sorokinschen Schreibens werden sichtbar: die Schrecken des Körperlichen, die Dämonie des Sexuellen, das Grauen der Geschichte. Zum Finale erscheint ein subalterner Chemiker auf der Bühne. Der Dostojevskij Trip, so sein Fazit angesichts von sieben Leichen, wirke unbedingt tödlich. Man müsse ihn versuchsweise mit Stephen King verdünnen.

Sorokin neues Drama lebt, wie alle früheren Werke des Russen, aus dem Geist der Konzeptkunst. Alles beginnt mit einer geistreichen Erfindung, einem konzeptuellen Trick. Seinen Roman "Norma" hatte Sorokin komplett aus der Verschiebung einer metaphorischen Redewendung ins Tatsächliche entwickelt - die sprichwörtlichen "Scheißefresser" der sowjetischen Diktatur wurden ein ganzes Buch lang zu realen Scheißefressern. Der "Dostojevskij Trip" nun verwandelt die gern gebrauchte Metapher von der Droge Literatur in den dramatischen Ernstfall. Das Stück ist ein großangelegter Verfremdungseffekt, ein radikaler Schelmenstreich. Aber Sorokins Experimente führen über die Grenzen der bekannten literarischen Geländespiele hinaus, ins Offene, in freie Zonen, wo neue symbolische Ladungen, neue Sinnfiguren entstehen.

Literatur als Psychotrip verstanden, Dostojevskij als Hohepriester des Rausches, seine Figuren in seelischen Endzuständen zur Kenntlichkeit gebracht - das wirkt in einem streng humanistischen Sinne wie ein Akt der ästhetischen Barbarei oder des ethischen Nihilismus. Aber in Sorokins Stück wird hinter der zertrümmerten Komplexität des Symbolischen, auf die der literarische Humanismus - Sorokins erklärter Feind - doch mit so viel Stolz beharrt, eine universalistische Pointe sichtbar. Ein künstlerischer Maximalismus, der Ethik und Ästhetik zusammenfallen lässt. Literatur, will uns der Autor sagen, muss aufs Ganze gehen, wenn sie bestehen will. Nur die letzten Wahrheiten über unsere Wunden und Wünsche sind Wahrheiten, die die Literatur etwas angehen. Schreiben und Lesen unterhalb der Rauschgrenze verfehlt die wahren Möglichkeiten der Kunst.

Der "Verlag der Autoren" fügt dem Dostojevskij Trip ein zweites Drama und eine Rede des Autors über das Theater bei. Das Stück "Krautsuppe tiefgefroren" führt vorwärts ins Jahr 2040, in eine böse Zukunft. Der "große Reinigungsprozeß des Planeten" ist abgeschlossen, die Menschheit lebt unter der Knute von Ökodiktatoren, die die Sprache ebenso wie alle leiblichen Genüsse einer gnadenlosen political correctnes unterwerfen. Sorokins Stück kann man als utopische Gaunerkomödie lesen - denn seine Haupfiguren gehören zur Avantgarde einer künftigen Verbrecherwelt. Es sind allesamt Meisterköche, hartgesottene Antivegetarier, die letzten großen Rauschmenschen, die in einem erbarmungslos reinen Weltstaat überlebt haben. In dem furios versponnenen Plot geht es um dreißig Kühlbehälter mit tiefgefrorener Krautsuppe der edelsten russischen Art, die im Jahr 2040 mehr wert sind als alle Kunstschätze zusammen.

Unbekümmert um dramatische Bühnengesetze entfaltet Sorokin einen munteren Reigen aus Fress- und Saufgelagen, Rotwelschdialogen und Unterweltkämpfen. Das Theater wird Mühe haben, die wirklich dramatischen Elemente herauszupräparieren, aber vielleicht ist Sorokins anarchischer Humor ja Verlockung genug. Dem Theater ist auch der am Schluß des Buches abgedruckte kurze Text "Die Schaubühne als narkomanische Anstalt" gewidmet. Eine spöttische Paraphrase auf Schillers berühmtes Diktum von der Schaubühne als moralische Anstalt. Mit Artaud und Beckett polemisiert Sorokin gegen die "vertrockneten Piroggen der ästhetischen Erziehung". Theater kann nicht erziehen, schreibt er, sondern nur verführen. Das ist seine vornehmste Pflicht: "Immer wieder neue Generationen von Theatersüchtigen heranzuziehen".

Wer heute gegen die betäubenden Wonnen von Rave, Kino und Virtual Reality bestehen möchte, muß starke Drogen an sein Publikum ausschenken. Letztendlich ist nur der Theatersüchtige ein wirklich verläßlicher Zuschauer. Womit sich die Kreise dieser in Buchform gebrachten Apologie des Rausches auf das innigste geschlossen hätten.

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