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Panorama: Du weißt etwas, das ich nicht weiß

Das offene Internet-Lexikon Wikipedia besteht seit fünf Jahren – aller Kritik zum Trotz

Berlin - Was kommt dabei heraus, wenn ein paar Tausend Menschen in einem System zusammenarbeiten, das niemand regiert, das sich selbst verwaltet und in dem jede Meinung zählt? – Bestenfalls nichts, würde man vermuten. Ansonsten: Chaos, Mord und Totschlag. Die Gattung Mensch hat keine gute Meinung von sich selbst.

Die freie Online-Enzyklopädie Wikipedia folgt genau diesem Prinzip freier Selbstverwaltung. Hobbyköchin Erna B. aus Gelsenkirchen schreibt einen Artikel über Kurkuma und verrät, dass es ein wesentlicher Bestandteil des Currypulvers ist, als Farbstoff dient und gut schmeckt. Währenddessen gibt Dr. Siegfried F. sein Wissen über Phänomene der Quantenmechanik weiter und debattiert auf der dazugehörigen Diskussionsseite mit einem vermeintlichen Kollegen darüber, ob der Stuhl, auf dem er zu sitzen glaubt, in Wirklichkeit nicht ganz woanders steht. Dieser Kollege ist in Wahrheit eine Kollegin und heißt Erna B.; soeben hat sie den von Dr. Siegfried F. verfassten Absatz um zwei Rechtschreibfehler erleichtert, einen Satz gelöscht und zwei hinzugefügt. Wer jetzt vermutet, dass Dr. Siegfried F. sich so etwas niemals gefallen lassen würde, hat nicht verstanden, welchem Geist das Projekt entsprungen ist.

Vor fünf Jahren wurde die englischsprachige Wikipedia von Jimmy Wales und Larry Sanger gegründet. Zunächst war ein herkömmliches Lexikon geplant, mit Redaktion und Chef. Die Wikipedia sollte nur eine Vorstufe sein, eine Materialsammlung für das eigentliche Lexikon – gewann aber so schnell an Fahrt, dass sie Redaktion und Chefs an die Wand spielte. Heute gibt es die Wikipedia in mehr als hundert Sprachen, die magische Zahl von einer Million Artikel ist längst geknackt. Umfasste die deutsche Ausgabe am 13. Juni 2004 noch hunderttausend Artikel, sind es heute 334 000 – eine riesige Enzyklopädie, geschrieben von Freiwilligen, die ihr Wissen zusammentragen, wie Erna und Siegfried miteinander diskutieren und sich gegenseitig korrigieren. Aus Spaß an der Sache. Ohne Chef.

Bei einem solchen Projekt kann nichts herauskommen, meinen seine Kritiker. Und die Ereignisse der letzten Zeit scheinen ihnen Recht zu geben. In Deutschland gibt es 18 344 angemeldete Wikipedianer plus eine weit höhere Dunkelziffer von „Schwarzarbeitern“. Denn eine Anmeldung ist nicht notwendig, um mitarbeiten zu können.

So passierte, was nach gängiger Meinung passieren musste: Das Nachschlagewerk verbreitete Falschmeldungen. Ein Mitbegründer der Zeitung „USA-Today“ wurde mit den Kennedy-Morden in Verbindung gebracht. Es dauerte vier Monate, bis der Schwindel aufflog. Jemand hatte einen Arbeitskollegen auf den Arm nehmen wollen, die Wikipedia als Gag betrachtet, den niemand ernst nehmen könne. Und ein Züricher Professor wurde einen Tag nach Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse in der Wikipedia für tot erklärt. Fünf Tage später durfte er wieder unter die Lebenden zurückkehren.

In der amerikanischen Ausgabe sollen in Zukunft nur noch angemeldete Anwender neue Artikel online stellen dürfen. Schon sehen Wiki-Gegner das kostenlose Nachschlagewerk am eigenen Erfolg ersticken. Der Vertrauensvorschuss sei verspielt, das Gutmenschen-Projekt gescheitert. Denn welchen Wert hat eine Wissensquelle, deren Inhalte nicht notwendig „wahr“ sind? Wer will einen Satz von Dr. Siegfried F. zitieren, an dem eine Erna B. aus Gelsenkirchen herumgepfuscht hat? Die Wikipedia hat die Schwächen ihrer Zuverlässigkeit nie geleugnet. Das muss sie auch nicht: Zum einen kann sie als ausweislich freies Lexikon von ihren Benutzern ein kritisches Bewusstsein verlangen. Zum anderen beweisen die zu Skandalen stilisierten Ereignisse viel weniger das Versagen der Wiki als ihre Stärke. Gerade ihre Fähigkeit zur Selbstreinigung ist einer der Grundpfeiler des funktionierenden freien Wissensaustauschs. Und jedem Akt der Selbstreinigung geht logisch ein Fehler oder ein Dummer-Jungen- Scherz voran.

Wer im Informationszeitalter an hundertprozentige Wahrheiten glaubt, sitzt einer jener Fortschrittsillusionen auf, die jede Epoche mit den ihr eigenen Mitteln hervorbringt. Der unbedingte Wunsch nach Gewissheit ist ebenso menschlich wie utopisch. In einem Vergleich des Wissenschaftsjournals „Nature“ zwischen der Encyclopaedia Britannica und der Wikipedia hat Letztere nur knapp verloren. Mit Chaos, Mord und Totschlag hat dieses Ergebnis jedenfalls nichts zu tun. Viel eher ist es ein Grund, den Hut zu ziehen. Denn es darf nicht vergessen werden, dass die Encyclopaedia Britannica im Jahr 1768 gegründet – und seitdem immer wieder überarbeitet wurde. Die Wiki hingegen erst vor fünf Jahren und einem Tag. Wenn die Angaben stimmen.

David Finck

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