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Brutaler Umgang. „Die Kinder haben die Anstalten größtenteils wie Gefängnisse erlebt“, sagt Autorin Anja Röhl.

© Imago Images/Blickwinkel

Erfahrungen in westdeutschen Kurheimen: "Ein ungeheuerliches Repertoire an schwarzer Pädagogik"

Millionen westdeutscher Kinder wurden ab den 50ern in Kurheime verschickt. Ein Gespräch über ihre traumatischen Erfahrungen.

Von Caroline Fetscher

Frau Röhl, Sie packen mit Ihrer Forschung zu den Kurheimen für Kinder ein verschüttetes Kapitel der Nachkriegsgeschichte aus. Wie kam es dazu?

In meiner Kindheit habe ich selber Grausamkeit in Kurheimen erlebt, an der Nordsee und im Teutoburger Wald. Meine Erinnerungen habe ich geschildert und online gestellt – die Resonanz war überwältigend. Hunderte erschütternde Erfahrungen kamen von Erwachsenen, die sich an Aufenthalte in Erholungsheimen erinnern, täglich wurden es mehr. Damit hätte ich nie gerechnet.

Was haben Sie mit diesen Berichten angefangen?
Ich fing an zu sammeln, zu sortieren und Gruppen Betroffener nach Regionen zu vernetzen. Viele Erwachsene haben zum ersten Mal über diese Schrecken ihrer Kinderzeit gesprochen. Ende 2019 haben sich 80 von uns auf der Insel Sylt versammelt, unterstützt durch die Kurverwaltung, wir hatten auch ausgezeichnete psychologische und soziologische Fachleute dabei.

Um wie viele Kinder handelt es sich bei den Kurkindern?
Von den 1950er bis in die 1990er Jahre hinein hat man in Westdeutschland acht, neun, vielleicht sogar zwölf Millionen Kinder in Kurheime verschickt, das besagen die Schätzungen, die wir teils mit dem Berliner Professor für Sozialpädagogik, Manfred Kappeler, zusammen erarbeitet haben. Ihn hatte ich als ersten Berater hinzugezogen, wegen seiner Expertise als Leiter des „Runden Tischs Heimerziehung“, den die Bundesregierung im November 2008 unter der Schirmherrschaft vom Norbert Lammert eingerichtet hatte.

Beim „Runden Tisch Heimerziehung“ ging es um ganz andere Heime.
Ja, da ging es um staatliche und kirchliche Fürsorgeheime, in die Kinder und Jugendliche gesteckt wurden und wo sie oft über Jahre blieben, weil sie als schwer erziehbar oder asozial galten und Ähnliches. Dort gab es schlimmste Misshandlungen, schwere Straftaten an den Insassen.

Dagegen klingt „Klimakuren“ oder „Kuraufenthalt“ nach Privileg. Da konnten Kinder raus aus den stickigen Städten und hatten Ferien auf Sylt, auf Föhr oder im Harz. War das nicht ein Luxus, möglich geworden durch das Wirtschaftswunder?
Es war ein brutalisierter Luxus, ein traumatisierender. Darin liegt die schreckliche Logik der Erholungsheime, die ich nicht mal so nennen würde. Viele Kinder waren viel zu klein für Trennungen. Man muss dabei immer bedenken, dass alle ohne Eltern, ohne vertraute Personen verschickt wurden, die meisten im Alter von zwei bis zehn Jahren. Kinderärzte haben die Kuren verschrieben, Eltern haben ihnen vertraut. Doch die Kinder haben die Anstalten größtenteils wie Gefängnisse erlebt, so jedenfalls die Erinnerungen der erwachsenen Zeitzeugen. Sie fühlten sich ausgestoßen, eingesperrt, bestraft, und hatten keine Ahnung, warum.

Wie wurden diese massenhaften Kinderferien finanziert?
Es war ein Milliardengeschäft, bei dem sich unter anderem freie Träger auf Kosten der Krankenkassen bereichern konnten. Heimangebote machten Städte und Landkreise, die Arbeiterwohlfahrt, das Deutsche Rote Kreuz, der Verband privater Kinderheime, katholische und evangelische Wohlfahrtseinrichtungen wie die Caritas oder die Innere Mission. Einige Orte und Einrichtungen waren ehemalige NS-Anstalten, etwa Ferienlager für die Hitlerjugend oder Jungmädel. Dieses Geschäftsmodell war nach 1945 passé, aber mit den Kurheimen für Kinder tat sich eine lukrative neue Einkommensquelle auf.

Kam das Personal auch aus der NS-Zeit?
Ja, einige Kontinuität ist zu vermuten, unsere Nachforschungen erbringen dafür Indizien und es gibt auch schon einige Belege. Viele der Erzieher, Sportlehrer, Krankenschwestern, Heimleiter hatten ihr Handwerk, wenn man das so nennen will, in der NS-Ära gelernt. Entsprechend hart und grausam gingen sie mit Jungen und Mädchen in ihrer Obhut um. Männliche und weibliche Erwachsene zeigten oft kein Erbarmen, keine Empathie.

Was passierte in den Heimen?
Viele Betroffene berichten vom Zwang zu essen, Erbrochenes zu essen, aber auch das Verweigern von Essen und Trinken als Strafe. Schläge waren gängig, Herabwürdigungen, Strafen bei Einnässen, Weinen, bei lautem Reden. Die Kinder erlebten Postkontrolle, Postzensur, Toilettenverbote, Schweigegebote. Nach unserem Kenntnisstand besaßen Hunderte Heime ein ungeheuerliches Repertoire an schwarzer Pädagogik und Methoden der Misshandlung. Daneben erfahren wir immer mehr davon, dass Kinder mit Medikamenten sediert wurden und sich dauerhaft benommen fühlten.

Auch den Fall einer Art Scheinhinrichtung eines Kindes soll es gegeben haben. Ein ungeheuerlicher Bericht.
Die Betroffene erinnert sich sehr genau. Es geschah 1966, als sie sechs Jahre alt war. In ihrem Kurheim Stauffenhof in Bad Reichenhall wurde das kleine Mädchen im Keller des Heims von Erzieherinnen in einen Wäschesack gesteckt und vor den Heizofen geschleppt. Die beteiligten Erwachsenen sagten ihr, man werde sie gleich in diesen Ofen hineinwerfen.

Das weckt schlimmste Assoziationen, solche Schocks sind zweifellos traumatisch, das wird fast jeder anerkennen. Geht es um weniger gravierende Kindheitserlebnisse, begegnet Ihrer Forschung das Argument: Das waren doch nur ein paar Wochen.
Solche Argumente hört man, ja. Sie laufen komplett fehl. Ein paar Wochen sind für Kinder ein unbegreiflicher Zeitraum, je jünger sie sind, umso mehr. Die Zeit scheint endlos, das Elternhaus verloren, jede vertraute Orientierung fehlt. Oft haben kleine Kinder nach wenigen Wochen Kur die Gesichter ihrer Eltern nicht mehr erkannt. Bereits das vielfach übliche Einsperren in Kellern oder Abstellräumen versetzt Kinder in Panik und existenzielle Angst. Für die meisten Kinder waren die erlebten Grausamkeiten unfassbar. Oft hat man ihnen später, zu Hause, nicht geglaubt. Ungezählte Kinder büßten massiv ihr Vertrauen in Erwachsene ein. Einige sagen, dass sie nach dem Horror im Heim nie wieder derselbe Mensch waren.

Autorin Anja Röhl
Autorin Anja Röhl

© Gabriele Senft/promo

Sie haben einen Verein gegründet, ein Buch geschrieben, Netzwerke ins Leben gerufen, es gab Medienberichte. Was geschieht von staatlicher Seite an Aufarbeitung?
Es bewegt sich einiges. Baden-Württemberg stellt Mittel bereit für ein Ehrenamtsbüro, in Nordrhein-Westfalen stehen die Chancen gut, dass es ebenfalls staatliche Unterstützung geben wird. Anträge auf Citizen Science sind entwickelt worden, haben Unterstützung gefunden, müssen noch vom Bund bewilligt werden, neue Kongresse, wenn die Pandemie es zulässt, wird es geben, zuerst auf Borkum im September, genaue Daten auf unserer Webseite. Ein monatlicher Aktiventreff findet per Video statt, dorthin werden 85 Personen eingeladen, hier findet die Meinungs- und Beschlussbildung der offenen Initiative statt.

Ändert sich etwas im Leben der vielen Betroffenen?
Einiges. Oft wird Erleichterung spürbar, dass man die Erfahrungen mit anderen teilen, mitteilen kann, dass Licht in die tabuisierte Kinderhölle dringt. Fast jeder und jede Betroffene erzählt übrigens, wie Freunde und Verwandte anfangen, sich plötzlich auch an ihre Verschickungsheime zu erinnern, sobald das Thema auf den Tisch kommt. Dann heißt es: „Ach ja, ich war ja auch mal ...“

Gibt es auch gute Erinnerungen, glücklichere?
Ja, die gibt es. Leider extrem selten, jedenfalls in unseren Kommentaren. Meist waren die Kinder dann etwas älter, mindestens zwölf. Wenn die Heimerziehung gewaltfrei war, die Erzieher liebevoll, die Gruppen freundlich, wenn es Sport und Spiel gab, das Essen lecker war, kein Schlafzwang herrschte und man am Strand toben konnte, dann hat das Ganze Spaß gemacht. Dann verdienten die Ferien den Zusatz: Erholung. Es hätte überall so schön sein können. Wir alle hätten das gern gehabt.

Anja Röhl ist Sonderpädagogin und hat die Aufarbeitung der Kurheime initiiert. Nun erschien ihr Buch „Das Elend der Verschickungskinder. Kindererholungsheime als Orte der Gewalt“.

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