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Fehltritte mit Würde: Kann denn Jugend Sünde sein?

Fragwürdige Lieblingsbands, modische Ausrutscher: Fehltritte muss man mit Überzeugung begehen. Später kann man sich in Würde dafür schämen.

Es ist eine Belastungsprobe für jede Beziehung: Man ist das erste Mal bei den Eltern, bislang hat man die neue Freundin erfolgreich durch Mamas Kohlrouladen und Papas Exkurse über die 68er geführt und ist zu dem übergegangen, was der „gemütliche Teil“ genannt wird und nur für einen Teil der Anwesenden gemütlich ist.

Auf der Couchgarnitur verfällt Mutter in verheißungsvolles Grinsen und zieht die alte Fotokiste raus. Was sie zu Tage fördert, kann alles kaputt machen: Der eben noch Angebetete und für schön Befundene steht im Samt-Zweireiher mit Schulterpolstern auf seiner Konfirmation und lächelt picklig und pubertär in die Kamera. Oder die, die man bislang noch für das schönste Mädchen der Welt hielt, stiert einem aus schwarz umrahmten Augen und mit verfilztem grünen Haar entgegen, trägt eine Ratte auf der Schulter und das „Nazis auf’s Maul“-Shirt strahlt die größte Friedfertigkeit ihres ganzen Auftritts aus.

Jugendsünden. Ein Begriff, der für jede Generation ganz Unterschiedliches bedeutet, natürlich. Und der doch aus den immergleichen Lebensbereichen stammt: Eltern, Liebe, Selbstverwirklichung im weitesten Sinne. Auch heute sollte man sich überlegen, ob man seinen Eltern mit Selbstmord droht, nur weil sie einen an der Autobahnauffahrt Hohenzollerndamm aufgelesen haben, an der man mit einem Pappschild mit der Aufschrift „Süden“ herumlungerte, weil man Bock hatte, eine Surfschule in Spanien aufzumachen und Bruchrechnung einfach nicht kapiert. Auch heute ist es klug zu überdenken, dass selbstgeschossene Nacktbilder für den ersten Freund noch Jahrzehnte später auf seinen Jungsabenden die Runde machen werden.

Plötzlich kramt Mutter alte Fotos raus - und macht damit alles kaputt

In der heutigen Zeit gibt es etliche Phänomene, die in einigen Jahren in Sachen Jugendsünden ganz vorne mit dabei sein dürften. Etwa der sogenannte Bieber-Flip, jene sorgsam um den Kopf gelegte Frisur, die Teenie-Star Justin Bieber populär gemacht hat. Dennoch hat Glück, wer heute jung ist, denn er ist es in einer Zeit, in der sich Erwachsene und Jugendliche optisch nie ähnlicher waren. Die Kleidungskombination Leggings und Ballerinas gilt sowohl für 14- als auch für 40-Jährige als absolut tragbar, ebenso verhält es sich mit Jeans und Chucks.

In den späten 80ern und frühen 90ern hingegen hätte man seine Großmutter für Geschäfte wie „H&M“ und „Mango“ verkauft. Für Läden also, in denen man sich für wenig Geld sehr modisch anziehen kann. Statt dessen gab man sein gesamtes Weihnachtsbudget für einen einzigen Benetton-Pullover mit Zopfmuster aus und griff danach wieder auf das zurück, was die eigene Mutter für schick hielt.

Gemeinhin gelten die lauten, schrillen 80er Jahre als besonders stilloses und hässliches Jahrzehnt, gegen das alle anderen nur besser wegkommen können. Einiges allerdings spricht dafür, dass dies in Wirklichkeit für die darauf folgende Dekade gilt: Die 90er sind das vergessene Jahrzehnt. Und genau das macht sie so gefährlich. Sie genießen keine mediale Omnipräsenz. Man sieht sie nicht auf Partys, sie feiern keine Revivals. Und deswegen treffen sie einen eiskalt, wenn man sie plötzlich wiedersieht. Ein Panoptikum fast vergessener Scheußlichkeiten. Der Inbegriff des 90er-Jahre-Teenagers ist die Clique der US-Serie „Beverly Hills 90210“ (die als Spin-off mit neuen Darstellern gerade wieder im Fernsehen läuft). Es dominierte ein modischer Mix aus kastenförmigen XXL-Sweatshirts, irisierenden Radlerhosen, neu aufkommenden „Rapper-Jeans“ und des mittels eines voluminösen Samthaargummis zusammengehaltenen, auf Fontanellenhöhe sitzenden Zopfes, der „Fick-mich-Palme“. Ein Jahrzehnt, geprägt von großformatiger Markengeilheit, von Benetton, Levi’s und Chevignon. Die 90er Jahre sind in der Literatur bisher weitgehend von Hohn und Spott über fiese Frisuren, dämliche Redewendungen, Marotten und Tanzstile verschont geblieben. Kein Wunder, denn sie fuhren im Windschatten der als fies geltenden 80er und der lang erwarteten Nullerjahre, von denen man plötzlich eine völlig neue, modernere, coolere Zeitrechnung erwartete.

Nur halbherzig hinter seiner Sünde zu stehen, gilt nicht
Wer die 90er Jahre als eine Art Erholungsphase zwischen zwei Jahrzehnten betrachtet, hat erfolgreich verdrängt, dass die Unauffälligkeit des Jahrzehnts einen idealen Nährboden bot für Grässlichkeiten aller Couleur. Denn gerade wegen ihrer Rolle als unentschiedenes Übergangsjahrzehnt hielten die 90er eine Menge Schrecklichkeiten bereit: Während sich alle noch von den entstellenden Schulterpolstern der 80er Jahre erholten und darauf warteten, dass endlich im Jahr 2000 alles anders wird, konnte die 90er-Jugend ungestört Joy-Gläser sammeln, sich gläserne Schnuller um den Hals hängen und zu den Klängen von „Lambada“ ihre Unterkörper aneinander reiben. Sie konnte sich mit so schweren Düften parfümieren, dass Väter reihenweise mitten auf der Landstraße aus dem Passat Kombi aussteigen und einige Atemzüge an der frischen Luft tun mussten, während die Tochter in einer riesigen „Jil Sander Sun“-Wolke nur kurz unbeeindruckt Roxette leiser stellte und sich dann wieder in ihre „Bravo“ vertiefte, in der auch dieses mal wieder vor den Risiken des Gläserrückens gewarnt wurde.

Warnungen und gute Ratschläge von Erwachsenen helfen aber natürlich nicht, gestern wie heute. Denn in einem Punkt weisen Jugendsünden verschiedener Generationen eine erschreckende, perfide Ähnlichkeit auf. Egal, ob es um die mittelgescheitelte Männer-Langhaarfrisur geht, um die Minipli-Dauerwelle, den Hang zu morbider Gruftimusik oder die Zeit, in der man sich weinend auf dem Boden gerollt hat, weil Mutter keine dreistellige DM-Summe für eine „Levi’s 501“ ausgeben wollte, aus der der 14-jährige Schlacks eh nach einer Woche schon wieder rausgewachsen war: Was eine erfolgreiche Jugendsünde werden will, muss mit absoluter, unzerstörbarer Überzeugung des Sünders ausgeführt werden. Genau diese unumstößliche Überzeugung macht die Sünde erst richtig schlimm.

Wer auf Familienbildern mit hängenden Schultern sein Gesicht ins Halbprofil wegzuducken versucht, um seine kupferfarbene Haartönung zu verdecken, hat keine echte Jugendsünde begangen. Wer sich hingegen stolz ablichten lässt, während er in einer Kuhfell-Latzhose und einer Trillerpfeife im Mund auf der Box einer Großraumdisko ekstatisch tanzt, schon. Eine der Jugendsünde innewohnende Eigenschaft ist, dass man im Moment der Ausübung voll und ganz hinter ihr stehen muss. Emos werden sich in 20 Jahren entsetzlich schämen. Und dass sie das aufs Heftigste bestreiten werden, ist der Beweis.

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