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Haiti

© AFP

Erdbeben: Haiti: Schreie unter Trümmern

"Eine Katastrophe biblischen Ausmaßes", sagt Haitis Botschafter in den USA. Sie trifft ausgerechnet das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Und die Leute denken wieder an einen Satz des Diktators Jean-Claude Duvalier: "Es ist das Schicksal der Menschen von Haiti, zu leiden".

Das Schlimmste, sagen Augenzeugen, sind die Schreie. Schreie nach Hilfe, die nicht geleistet werden kann. Sie kommen aus allen Richtungen, aus den Überresten eingestürzter Gebäude. Weinende Eltern irren auf der Suche nach ihren Kindern durch die Straßen. Niemand weiß, wie man vordringen soll zu den Menschen, die unter den Trümmern eingeschlossen sind. Und die einzige Institution, von der die Menschen in diesem so armen und schlecht verwalteten Land Hilfe erwarten könnten, ist selbst von dem Beben betroffen: Das Hauptquartier der seit 2004 auf Haiti stationierten UN-Schutztruppe ist zerstört, ein Großteil der Soldaten galt am Mittwoch als vermisst.

Am Tag zuvor, am Dienstag, kurz vor 17 Uhr Ortszeit, hatte alles begonnen in Port-au-Prince, der Hauptstadt Haitis mit ihren zwei Millionen Einwohnern. „Ich war auf dem Weg in mein Hotel“, berichtete später Henry Bahn, ein Mitarbeiter des US-Landwirtschaftsministeriums. Plötzlich sei da ein seltsames Geräusch in der Luft gewesen, „eine Art Brummen“, das immer lauter wurde, bevor schließlich die Erde zu beben begann, bevor das Brummen Henry Bahr von der Straße hob und ihn gegen eine Mauer schleuderte.

Das Brummen dröhnte etwa eine Minute lang in Henry Bahrs Ohren. Und als es endlich, endlich verhallt war, erkannte Bahr seine Umgebung nicht wieder.

Ein Schleier aus Staub hatte sich über die Stadt gelegt, durchbrochen hier und da von Feuerschein. Das Beben, Stärke 7,2 auf der Richterskala, hatte Haitis marode Hauptstadt erschüttert und seine Bewohner weitgehend von der Welt abgeschnitten. Telefonverbindungen und die Stromversorgung waren kollabiert, nur über Satellit waren prekäre Kommunikationen möglich, die der Weltöffentlichkeit einen ersten bestürzenden Eindruck vom Ausmaß der Zerstörung vermittelten. Straßen waren aufgerissen, zahlreiche Gebäude waren eingestürzt, darunter Krankenhäuser, Schulen, Kathedralen, Ministerien, das Parlament, der Präsidentenpalast.

Kurz darauf sollte Raymond Alcide Joseph, Haitis Botschafter in den USA, von einer „Katastrophe biblischen Ausmaßes“ sprechen. Er befürchte, sagte der Diplomat, dass die Zahl der Opfer in die Tausende gehen würde.

Noch am späteren Mittwoch war unklar, wie viele Menschen tatsächlich dem Beben zum Opfer gefallen sind. Auch das Rote Kreuz nannte keine Opferzahlen, doch bei der internationalen Hilfsorganisation geht man inzwischen davon aus, dass drei Millionen Menschen unter den Folgen des Bebens leiden werden, rund ein Drittel der Gesamtbevölkerung.

Die Katastrophe trifft einen Staat, der ohnehin seit Jahrzehnten am Rande des Abgrunds taumelt. Während sich im Osten der karibischen Insel Hispaniola die Dominikanische Republik zum weltweiten Touristenmagnet entwickelt hat, stieg das auf der anderen Inselseite gelegene Haiti kontinuierlich zum ärmsten Land der westlichen Hemisphäre ab. Etwa vier von fünf Haitianern leben von weniger als zwei Dollar am Tag.

Seit Jahren verirrt sich kaum noch ein westlicher Besucher in das heruntergewirtschaftete, von Korruption und Kriminalität geplagte Land. Den wenigen, die es doch nach Port-au-Prince verschlug, bot die Hauptstadt schon vor dem Beben einen erbärmlichen Anblick. Das betraf vor allem Elendsviertel wie Cité Soleil, einen fünf Quadratkilometer großen Slum im Norden der Stadt, der als einer der größten der Welt galt. Auch vor dem Beben sah man hier fast nur Ruinen, von Gras überwucherte Häuserreste, Kinder spielten im Schutt vor rauchschwarzen Hauseingängen, überall lag Müll. Am Rinnstein hockten Frauen und wuschen in bunten Plastikschüsseln Wäsche, während Männer auf bröckelnden Mauervorsprüngen dösten, verziert mit grellen Graffiti und politischen Parolen. Die Arbeitslosenrate in Cité Soleil betrug 90 Prozent, es war ein Ort ohne Jobs, ohne Kanalisation, ohne Recht und Gesetz, kontrolliert allein von den berüchtigten Banden Haitis. Seit dem Beben dürften hier auch die letzten Lebensgrundlagen vernichtet sein.

Kaum besser als die Slums sah das Stadtzentrum von Port-au-Prince aus: marode Straßen, auf denen rußumwölkte Pick-Ups schlingernd Schlaglöcher umschifften, flankiert von heruntergekommenen Kolonialbauten mit wirren Elektroleitungen, die nur stundenweise Strom lieferten, viele Läden mit Brettern vernagelt, davor in Stapeln die Waren fliegender Händler. Wie improvisiert wirkte das Geschäftsleben der Innenstadt: aus Brettern, Planen und Pappkartons jeden Morgen zusammengebastelte Stände, die mit ihren Sonnenschirmen wie Pilze entlang der Straßenränder wucherten, um abends wieder zusammengeklappt zu werden.

Über dem „Marché de Fer“, Haitis größtem Markt, thronten zwei rostige Eisentürme, dazwischen eine riesige Uhr, deren Zeiger auf drei nach neun festhingen; wie lange sie schon stillstanden, das vermochte keiner der Händler zu sagen, und es schien in diesem Land, an dem die Zeit vorbeigegangen war, auch keine Rolle mehr zu spielen.

Wer zwischen den Ständen umherlief, konnte Anette Nicolas begegnen, einer 37-jährigen Händlerin, die auf dem Eisenmarkt einen Stand mit Voodoo-Zubehör betrieb – etwa drei Viertel aller Haitianer sollen, unabhängig von ihrer sonstigen Religionszugehörigkeit, dem alten kreolischen Volksglauben anhängen. Wer mit Anette Nicolas sprach, zwischen ihren Miniatursärgen, Masken, Heiligenbildern, Schwertern und Mixturen, der bekam Antworten, wie sie viele der armen Leute in Haiti gaben: Früher, da sei Port-au-Prince wenigstens sauber gewesen und sicher, zu jeder Tages- und Nachtzeit habe man auf die Straße gehen können. Früher, wann das war? Darauf hatte Anette Nicolas eine einfache Antwort: „Unter Duvalier!“

Gemeint war Jean-Claude Duvalier, im Westen besser bekannt unter seinem Spitznamen „Baby Doc“. Mehr als 30 000 Menschen sollen unter Haitis Diktator gewaltsam zu Tode gekommen sein. Von Duvalier stammt auch jener gespenstische Satz, an den sich heute, nach dem Beben, wieder viele in Port-au-Prince erinnern dürften: „Es ist das Schicksal der Menschen von Haiti, zu leiden.“

Dass manche hier, wie Anette Nicolas, trotzdem verklärte Erinnerungen an den Diktator pflegen, liegt wohl daran, dass auch „Baby Docs“ Absetzung im Jahr 1986 dem Land wenig Gutes brachte. Von Manipulationsvorwürfen überschattete Wahlen brachten wechselnde Staatschefs an die Macht, von denen es keinem gelang, das entgleiste Land in den Griff zu bekommen. Auch US-Interventionen brachten keine langfristige Stabilität, immer wieder erschütterten schwere Unruhen und bewaffnete Auseinandersetzungen Haiti. Vor fünf Jahren schließlich entsandten die UN eine Friedensmission in das Land, das zunehmend als Bedrohung für die internationale Ordnung wahrgenommen wurde. Seitdem sind rund 9000 Blauhelme in Haiti stationiert, die im Kampf mit bewaffneten kriminellen Gruppierungen alle Hände voll damit zu tun haben, ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten, während die einheimische Bevölkerung dem Wüten der Banden oft schutzlos ausgeliefert ist.

Jetzt, nach dem Beben, ist weitgehend unklar, wie schwer die internationalen Mitarbeiter der UN-Friedensmission von den Zerstörungen betroffen sind. Mehrere an der Mission beteiligte Staaten, darunter China und Brasilien, haben Todesopfer gemeldet. Frankreichs Außenminister Bernard Kouchner bestätigte, das Einsatzgebäude der Mission in Port-au-Prince sei eingestürzt. „Wir sind ohne Nachricht von den Menschen, die im Gebäude waren“, fügte er hinzu. Vom Chef der Friedensmission, dem Tunesier Hedi Annabi, fehlte erst jedes Lebenszeichen. Dann die Gewissheit: Er ist tot.

Wie ein Schlag aus heiterem Himmel sei das Beben gekommen, berichteten überlebende UN-Mitarbeiter und Menschen in den Straßen von Port-au-Prince. Keiner hatte die Katastrophe kommen sehen. Auch kein Geologe. Denn trotz aufwendiger Messungen und komplexer Computerprogramme können Forscher immer noch nicht vorhersagen, wann und wo die Erde beben wird. Sie können lediglich Gebiete identifizieren, in denen das Risiko besonders hoch ist. Haiti gehörte dazu. Im Umfeld der Insel drängen die nordamerikanische und die karibische Platte aneinander vorbei, die eine gen Westen, die andere gen Osten, mit einer relativen Geschwindigkeit von zwei Zentimetern pro Jahr. Die Bewegung ist nicht gleichförmig, an der Grenze verhaken sich die Gesteinsplatten immer wieder. Während ihr Kriechen vorne gestoppt wird, schiebt sich der hintere Teil der Erdplatten weiter. Vorne wird so die Spannung immer größer, bis das Gestein dem Druck nicht mehr standhält und zerreißt. Dann wird die aufgestaute Energie von Jahrzehnten mit einem Schlag frei. So wie am Dienstag auf Haiti.

Je länger eine Plattengrenze stillsteht, desto mehr Zerstörungskraft kann sie im Verborgenen sammeln. Unter Port-au-Prince, wo sich zuletzt vor 259 Jahren ein schweres Beben ereignete, hatte sich so viel Spannung aufgestaut, dass die Gesteinsschichten jetzt mit einem Mal bis zu zwei Meter gegeneinander versetzt wurden, wie Heiko Woith vom Geoforschungszentrum in Potsdam erklärt. Das Resultat war ein minutenlanges Beben.

So gravierend waren die Auswirkungen dieser Erschütterung, dass Port-au-Prince nicht einmal mehr aus der Luft erreichbar war: Die Landebahn des hauptstädtischen Flughafens wurde zerstört. Als letztem Flugzeug war kurz zuvor einer American-Airlines-Maschine der Start geglückt. Bei ihrer Ankunft in Miami war bei den haitianischen Passagieren kaum Freude über die geglückte Flucht zu spüren. Sie fürchteten das Schlimmste für die Familien, die sie zurückgelassen hatten.

Mitarbeit: Ralf Nestler, Sandra Weiss

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