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Panorama: Kein Visum für Anne Frank

Neu entdeckte Bittbriefe des Vaters zeigen die verzweifelten Versuche, die Familie in Sicherheit zu bringen

Der Tonfall ist vertraulich, die Sache dringlich. „Ich bin gezwungen, mich um eine Emigration zu kümmern, und soweit ich sehen kann, sind die USA das einzige Land, in das wir gehen können“, schreibt Otto Frank. „Es geht um das Wohl unserer Kinder. Unser eigenes Schicksal ist weniger wichtig.“ Der Brief des jüdischen Fabrikanten in Amsterdam an seinen alten Freund Nathan Straus in New York ist der Beginn eines verzweifelten Versuchs, seine Familie vor den Nazis zu retten.

Als alle Optionen erschöpft sind, taucht die Familie im Sommer 1942 unter, nur um nach zwei Jahren entdeckt und deportiert zu werden. Seine Ehefrau Edith und seine Töchter Anne und Margot sterben in Konzentrationslagern. Otto Frank überlebt und bringt später Annes Tagebuch heraus, in dem sie das Leben der Juden im Holocaust so eindringlich beschreibt, dass es Millionen Menschen berührt. Bis heute hat sich „Tagebuch der Anne Frank“ über 75 Millionen Mal verkauft.

Die verzweifelten Versuche, die Annes Vater unternahm, seine Familie aus den besetzten Niederlanden herauszubringen, waren bislang unbekannt. Einer aufmerksamen Praktikantin des YIVO Institute for Jewish Research in New York ist es zu verdanken, dass diese Lücke nun geschlossen ist. Sie entdeckte 2005 in den mehr als 100 000 Dokumenten des Archivs, die bislang ungesichtet in einem Warenhaus in New Jersey lagern, eine Mappe mit dem Namen „Otto Frank“.

Die 65 Briefe und Telegramme erzählen die tragische Geschichte einer Familie, die es trotz bester Verbindungen nicht schafft zu fliehen. Nathan Straus war der Sohn des Mitbegründers der amerikanischen Kaufhauskette „Macy’s“ und leitete die US-Wohnungsbehörde, seine Frau eine enge Freundin der Präsidentengattin Eleonor Roosevelt. Zudem versuchten Edith Franks Brüder, die 1933 in die USA ausgewandert waren, verzweifelt, ihre Schwester und ihre Familie in die USA zu holen. „Die Frank-Familie hatte ausgezeichnete amerikanische Verbindungen“, sagt David Engel, Holocaust- Forscher an der New York University, „trotzdem hat es nicht gereicht.“

Ein Grund dafür sei gewesen, dass die Briefe und Telegramme über den Atlantik länger brauchten, als die Einreisebestimmungen Bestand hatten. Otto Frank versuchte bereits 1938 halbherzig, ein Visum für seine Familie zu bekommen. Als er den zweiten Anlauf startete, machten die USA ihre Grenzen praktisch dicht. „Es gab eine enorme Angst, sich mit den Flüchtlingen auch Spione ins Land zu holen“, sagt Richard Breitman, Historiker an der American University in Washington. Antisemitismus sei als Teil einer größeren Angst vor den Unbekannten in Amerika ebenfalls ein Faktor gewesen. Ferner spielte Geld eine Rolle. Um ein US-Visum zu bekommen, hätte Otto Frank eine Sicherheit in Höhe von 2500 Dollar pro Person hinterlegen müssen, nach heutigem Wert rund 65 000 Dollar für die gesamte Familie. Als deutlich wurde, dass eine direkte Einreise in die USA nicht in Frage kam, versuchte Frank ein Visum für Kuba zu bekommen. Das wurde ihm zwar am 1. Dezember 1941 gewährt, doch zwölf Tage später erklärte Hitler den USA den Krieg, Kuba zog das Visum zurück. Die letzte Tür war zugefallen.

Beide Forscher, Engel und Breitman, sind sich einig, dass die restriktive Einwanderungpolitik der USA eine entscheidende Rolle im Schicksal der Familie Frank spielte – wie bei Tausenden anderen auch. Viele der Schwierigkeiten, denen die Frank-Familie und die anderen jüdischen Flüchtlinge gegenüberstanden, seien zufällig gewesen, aber einige Hürden seien bewusst aufgebaut worden, sagt Breitman: „Ohne sie wäre Anne Frank heute 77 Jahre alt und lebte als Schriftstellerin in Boston.“

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