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Panorama: "Kulturphilosophie": Viele Götter bewohnen diese Welt

Albert Schweitzer galt bisher als philosophischer und theologischer Außenseiter. Doch neuerdings gewinnt er vor allem im Blick auf die Ökologiedebatte an Bedeutung.

Albert Schweitzer galt bisher als philosophischer und theologischer Außenseiter. Doch neuerdings gewinnt er vor allem im Blick auf die Ökologiedebatte an Bedeutung. Nach fast 20-jähriger Vorarbeit erscheint seit 1995 sein Nachlass, der weit über zehntausend Manuskriptseiten und 800 Briefe umfasst. Nach "Reich Gottes und Christentum" und den "Straßburger Vorlesungen" liegt nun endlich mit der "Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben" der wichtigste Nachlassband vor. Er komplettiert die Kulturphilosophie I und II ("Kultur und Ethik") von 1923 und erinnert daran, dass Schweitzer (1875-1965) nicht nur der weltweit geschätzte "Urwald-Doktor von Lambarene" und Friedensnobelpreisträger (1952) war.

Schweitzer hatte ihn nachts bei Kerzenschein im afrikanischen Busch, auf dem Schiff und während seiner Europa-Aufenthalte in den Jahren 1931 bis 1945 verfasst. Herausgekommen war, wie Schweitzer sich selbst eingestand, ein "etwas chaotisches Buch", eine Ansammlung von Einleitungen, Entwürfen und Exkursen. Schweitzer unternimmt darin den Versuch, den abendländischen Rationalismus zu erneuern. So versucht er Kant und Schopenhauer zusammenzudenken, indem er von der rationalen Vertiefung in den je individuellen Lebenswillen und dessen Weltverbundenheit ein apriorisches Grundgesetz des Sittlichen erhofft. Zudem greift er auf Goethes staunend-bejahende Ehrfurcht vor der Natur und auf die östliche Philosophie, besonders den Brahmanismus, zurück, die ihn in die Nähe eines ökophilen Pantheismus führt.

Damit gelangt Schweitzer, wie er unbeirrbar wähnte, zum "denknotwendigen, universellen und absoluten" Grundprinzip des Ethischen, zur "Ehrfurcht vor dem Leben", die dem unmittelbaren Bewusstsein innewohnt. Sie schließt eine ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung für alles Lebendige ein. Er hatte somit eine Lebensanschauung der mystischen Weltverbundenheit entworfen, eine lebens- und weltbejahende "ethische Willensmystik", in der Denken und weltverbindendes "Erleben des Lebens" zusammenfließen und zum "Einswerden mit dem Sein" führen. Mit ihr suchte er zugleich Nietzsches "Philosophie des Willens zur Macht" aus dem Feld zu schlagen.

Im vorliegenden Schlussband versucht Schweitzer die Lebensanschauung zu einer umfassenden Weltanschauung auszubauen, gewissermaßen um die Ethik herum eine Weltdeutung zu entwickeln, in der sich der Mensch angesichts des "grausigen Schicksals, sich nur auf Kosten anderen Lebens erhalten zu können", mit seinen Sinnfragen aufgehoben findet. Ein kühnes Unternehmen, das die letztmögliche Synthese aller im Menschheitsdenken entworfenen Modelle des Mensch-Welt-Verhältnisses erstrebt. Der geistesgeschichtliche Streifzug führt ihn dabei von den Vorsokratikern hin zum chinesischen und indischen Denken, zu Zarathustra und schließlich zum Christentum und zur Neuzeit.

Spätestens bei dieser Aufgabe haben sich Schweitzers anschaulich formulierte Gedanken verheddert. Der Erfolg musste ihm versagt bleiben. Harmonie mit einer Welt zu denken, deren Gesetze in Disharmonie zur Ethik stehen; Humanität aus einem blinden, gnadenlosen Naturgesetz sich gleichsam automatisch entwickeln zu lassen - dies blieb ein ungelöstes Problem, das auch Schweitzer früh erkannte. Dennoch wird in seinem Entwurf der Versuch einer für alle Weltkulturen akzeptablen Neufassung der Humanitätsidee sichtbar. Wie ein buntes Gewebe von kühnen Gedankenlinien zieht sich diese durch die vielfältige Geschichte der "ganz und gar rätselhaften" Welt, die Schweitzer als "ein vorübergehend im All umhergewirbeltes Staubkörnchen" auffasst. Schließlich mündet sie in die "alltägliche Dingen" ein und erweist sich als angewandte Philosophie. Diese weist dem glücksuchenden Menschen die Aufgabe zu, mittels des Denkens in die ethische Weltverbundenheit hineinzuwachsen und "bewahrende Hingabe an das Leben" auszuüben.

Spätestens mit diesem Buch wird der Menschheitsdenker Schweitzer als "Anreger einer Wende vom Schulbegriff zum Weltbegriff der Philosophie" (so bereits Ernst Cassirer, 1935) erkennbar, als Vordenker einer ökologischen Ethik. Dem von ihm als "Bruder Mensch" angesprochenen Leser wird es mannigfache Anregungen vermitteln: nicht zuletzt für die unendliche Suche nach dem Sinn des Lebens, "das große Geheimnis, das wir Menschen niemals verstehen, sondern nur leben können".

Werner Raupp

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