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Niels H. sitzt bereits wegen sechsfachem Mord im Gefängnis. Nun werden ihm mehr als 100 weitere vorgeworfen.

© Julian Stratenschulte/Reuters

Update

Landgericht Oldenburg: Ex-Pfleger Niels H. gesteht Morde

Mehr als 100 Patienten hat Krankenpfleger Niels H. getötet. Am Dienstag gestand er vor Gericht

Der wegen 100 Morden angeklagte Ex-Krankenpfleger Niels H. hat am ersten Prozesstag die ihm zu Last gelegten Vorwürfe weitgehend gestanden. Die allgemein gestellte Frage von Richter Sebastian Bührmann, ob die 100 Vorwürfe vom Missbrauch an Patienten bis zur Todesfolge größtenteils zuträfen, beantwortete H. am Dienstag mit „Ja“.

Die Staatsanwaltschaft wirft dem heute 41-Jährigen vor dem Landgericht Oldenburg vor, von 2000 bis 2005 immer wieder Patienten an den Kliniken Oldenburg und Delmenhorst zu Tode gespritzt zu haben. Wegen sechs Taten sitzt er bereits lebenslang in Haft.

Vor seinem Geständnis war er vom Gericht ausführlich zu den Anfängen seines beruflichen Werdegangs und seinen privaten Verhältnissen befragt worden. Um konkrete Tatvorwürfe ging es dabei zunächst nicht, die Richter wollen die Geschehnisse aus der sehr umfangreichen Anklageschrift chronologisch abarbeiten. H. berichtete, er habe bereits kurz nach dem Berufsstart unter Leistungsdruck gestanden und angefangen, Schmerzmittel zu nehmen. "Es war der Stress." Er hätte bereits damals erkennen müssen, dass die Arbeit nichts für ihn gewesen sei.

Der Prozess hat am Dienstag mit einer Schweigeminute für die Opfer. Es ist die größte Mordserie in der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Niels H. habe aus niedrigen Beweggründen und heimtückisch die Patienten getötet, hieß es bei der Anklageverlesung der Staatsanwaltschaft. Er habe aus Langeweile und, um seine Fähigkeiten bei der Reanimation zu demonstrieren, den Menschen Medikamente gespritzt, die zu Herzversagen führten oder andere Komplikationen auslösten. Dies habe er in dem Wissen getan, dass dies zum Tod führen kann. Wahllos soll sich H. seine Opfer ausgesucht haben. Das jüngste war 34, das älteste 96 Jahre alt. Die Staatsanwältin ging in ihrer rund eineinhalbstündigen Anklageverlesung auf jeden der 100 Fälle ein. Für den Prozess benannte sie 23 Zeugen und 11 toxikologische und rechtsmedizinische Sachverständige.

"Das hier ist die akribische Suche nach der Wahrheit", sagte der Vorsitzende Richter Sebastian Bührmann zum Auftakt des Mordprozesses. Und an die Angehörigen der Opfer gewandt: „Alle ihre Angehörigen haben es verdient, dass man ihnen in Ehren gedenkt“. Dies sei unabhängig davon, ob H. etwas mit deren Tod zu tun habe oder nicht. „Wir werden uns bemühen und mit allen Kräften nach der Wahrheit suchen“, versprach Bührmann. An H. gerichtet sagte er: „Ich werde mit Ihnen fair verhandeln, ich werde mit Ihnen offen verhandeln in guten Sachen wie in schlechten Dingen.“

Eine Krankenschwester hatte H. im Sommer 2005 auf frischer Tat am Klinikum Delmenhorst bei Bremen ertappt. Doch bis das gesamte Ausmaß der Mordserie ans Licht kam, vergingen Jahre. Mehr als 130 Leichen ließen die Ermittler auf Friedhöfen ausgraben und diese auf Rückstände von Medikamenten untersuchen. Mehrmals befragten sie den Ex-Pfleger im Gefängnis. Dieser habe die Taten gestanden, soweit er sich an sie erinnern könne, sagte Oberstaatsanwalt Martin Koziolek.

Genaue Zahl der Opfer ist unbekannt

Rund 120 Nebenkläger wollen in dem Prozess erfahren, wie und warum ihre Verwandten sterben mussten. „Sie wollen dem Angeklagten in die Augen schauen“, sagte Nebenklage-Anwältin Gaby Lübben. Das Landgericht Oldenburg erwartet zahlreiche Zuschauer und Journalisten zum Prozessauftakt. Wegen des großen Andrangs hat die Kammer die Verhandlung in die Weser-Ems-Hallen verlegt.

"Wir haben vier Jahre für diesen Prozess gekämpft und erwarten, dass H. wegen weiterer 100 Morde verurteilt wird", sagte Christian Marbach, der Sprecher der Angehörigen. Sein Großvater war von H. getötet worden. „Das Ziel ist, dass H. so lange wie möglich in Haft bleibt."

Wie viele Menschen der Beschuldigte auf dem Gewissen hat, wird auch der neue Prozess nicht mit Sicherheit klären können. Die Polizei hatte wegen mehr als 200 Verdachtsfällen ermittelt. Doch viele Patienten, die an den Kliniken Oldenburg und Delmenhorst starben, wurden eingeäschert; ihre Leiche konnten nicht mehr untersucht werden. In zwei Fällen stehen außerdem Exhumierungen in der Türkei noch aus. Ob und wann die türkischen Behörden diese vornehmen, ist offen.

Patientenschützer fordern Konsequenzen

Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, forderte die Bundesregierung auf, aus dem Fall klare Konsequenzen zu ziehen. „Trotz der größten Mordserie der Nachkriegsgeschichte bleiben Bund und Länder weitestgehend tatenlos. Es fehlen bundesweite Anstrengungen, um solche Einzeltäter rechtzeitig zu stoppen. Das ist unerträglich“, sagte Brysch dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

"Insellösungen in einzelnen Bundesländern reichen nicht aus", sagte Brysch,. Bund und Länder müssten für einheitliche Regelungen für die rund 2000 Krankenhäuser sorgen.

Die Einführung von Stationsapothekern und internen Fehlermeldesystemen, wie sie zuletzt in Niedersachsen beschlossen wurden, reichen nach Ansicht von Brysch nicht aus. Nötig sei "eine unabhängige und externe Anlaufstelle für anonyme Hinweisgeber". Dies könne ein Anwalt oder Seelsorger sein. "So wird die ohnehin hohe Hemmschwelle gesenkt, um verdächtige Vorkommnisse zu melden", sagte Brysch. Zudem sei "eine lückenlose, standardisierte und elektronische Kontrolle" der Medikamentenabgabe in allen Krankenhäusern notwendig. Sowohl die Entnahme und Zusammensetzung der Medikamente auf der Station als auch die Zuteilung an die Patienten müssten digital erfasst und überprüft werden, forderte Brysch.

Der niedersächsische Landtag verschärfte vor wenigen Tagen das Krankenhausgesetz. Kliniken im Land müssen künftig anonyme Meldesysteme einführen und Stationsapotheker beschäftigten, um eine bessere Kontrolle über die Ausgabe von Medikamenten zu haben.
Brysch nannte es "überfällig, dass endlich Konsequenzen aus den Krankenhausmorden gezogen werden" und sprach von einem ersten Schritt. Nötig sei auch "eine offene Kultur des Hinschauens". "Tötungsfälle in Krankenhäusern und Pflegeheimen sind Ausnahmen."
"Dennoch ist es nirgendwo so einfach zu morden wie hier", sagte Brysch. Es gelte daher, ein Gespür für die Gewalt gegen Patienten und Pflegebedürftige zu entwickeln. "Eine offene Fehlerkultur schafft kein Misstrauen, sondern sensibilisiert und stärkt das Team." (dpa, AFP)

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