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Harvey Weinstein und seine Anwältin Donna Rotunno im Juli 2019 auf dem Weg zu einer Anhörung in New York.

© Seth Wenig/AP/dpa

Prozess gegen Harvey Weinstein: Viel mehr als nur eine Anklage

Mit den Enthüllungen um den Filmmogul Harvey Weinstein entbrannte eine weltweite Debatte um sexualisierte Gewalt. Jetzt muss er sich vor Gericht verantworten.

Das Bizarre an der Geschichte um den ehemaligen Filmproduzenten Harvey Weinstein ist, dass sie sich bereits wie ein Drehbuch liest. In jeder neuen Wendung sieht man schon die Verfilmung vor sich. Bei der könnte lediglich die Frage sein, wann genau sie mit der Handlung einsetzt.

Die heute bekannten Vorwürfe gegen Weinstein wegen sexualisierter Gewalt gegen Frauen führen bis in die Neunzigerjahre zurück; schon wegen der Verjährungsfristen sind manche der ihm zur Last gelegten Taten nicht Gegenstand des Strafprozesses, der nun am Montag in New York City startet. Erwartet wird, dass er etwa zwei Monate dauern könnte. [Dieser Artikel erschien zuerst bei Zeit.de]

Sollte dann auch wirklich ein Urteil gefällt werden gegen Weinstein, wäre das nicht nur das mutmaßliche Ende der Karriere des einst übermächtig erscheinenden Produzenten. Es wäre auch ein guter Anfang für einen Film über ihn.

Beginnen könnte der auch mit dem Moment, in dem die Öffentlichkeit zum ersten Mal eine Vorstellung von den Vergehen bekam, die Weinstein heute vorgeworden werden: Am 5. Oktober 2017 erschien der erste Enthüllungstext der Reporterinnen Jodi Kantor und Megan Twohey in der New York Times, fünf Tage später dann im New Yorker der erste des Reporters Ronan Farrow, der zuvor fast zwei Jahre lang vergeblich versucht hatte, seine Recherchen über Weinstein bei seinem damaligen Arbeitgeber zu veröffentlichen, dem Fernsehsender NBC.

Sieht sich als Opfer: Harvey Weinstein bei einem Gerichtstermin im Dezember.
Sieht sich als Opfer: Harvey Weinstein bei einem Gerichtstermin im Dezember.

© David Dee Delgado / GETTY IMAGES NORTH AMERICA / AFP

Diesen ersten, bereits erschütternden Berichten über Weinsteins einstiges mutmaßliches Belästigungs- und Unterdrückungssystem folgte eine beispiellose Welle weiterer Anschuldigungen gegen ihn. Am Ende äußerten mehr als 80 Schauspielerinnen, Mitarbeiterinnen oder ehemalige Angestellte Vorwürfe gegen ihn.

In der Folge bekannten und bekennen bis heute Frauen in der ganzen Welt öffentlich: Mir ist das auch passiert. Ich war oder bin Anzüglichkeiten an meinem Arbeitsplatz ausgesetzt, habe sexuelle Belästigung oder Missbrauch im Job erfahren. Aus einem Hashtag, der bereits vor den Weinstein-Enthüllungen existierte, entstand eine globale Bewegung namens MeToo, die auch viele Männer nachdenklich werden und ihr eigenes Verhalten hinterfragen ließ.

Im Fall Weinstein gingen Behörden in New York City, Los Angeles und London den Vorwürfen nach. Im Mai 2018 stellte sich Harvey Weinstein in Manhattan der Polizei, er kam so seiner Festnahme zuvor. Er erschien daraufhin mit grauem Gesicht vor dem New York County Criminal Court, abgeführt wurde er von der Polizistin Keri Thompson, gleichsam stellvertretend für all seine mutmaßlichen Opfer. Fotos davon gingen als Symbolbilder um die Welt, als Zeichen, dass Macht und Geld einen mutmaßlichen Täter nicht endlos vor Strafverfolgung schützen können.

Ein Bild aus der Zeit vor den Enthüllungen: Weinstein im Jahr 2013 auf dem roten Teppich beim Filmfestival in Cannes.
Ein Bild aus der Zeit vor den Enthüllungen: Weinstein im Jahr 2013 auf dem roten Teppich beim Filmfestival in Cannes.

© REUTERS/Eric Gaillard/File Photo

Doch so einfach ist das alles natürlich nicht. Vor etwa einem Jahr sah es sogar mal so aus, als könnte der Prozess gegen Weinstein platzen. Ursprünglich sollte in New York über mögliche Straftaten des Produzenten gegen drei Frauen verhandelt werden, doch der vorsitzende Richter James Burke hatte die Vorwürfe eines der mutmaßlichen Opfer nicht zugelassen.

Und Mitte Dezember 2019 berichtete die New York Times von einer aufsehenerregenden Einigung, die der ehemalige Produzent mit dem Großteil der Frauen geschlossen hatte, die ihn sexueller Übergriffe bezichtigt hatten. Etwa 30 Schauspielerinnen und ehemalige Angestellte hätten der finanziellen Kompensation zugestimmt, berichtete die Zeitung. Dieser Deal, konstatierte die New York Times, würde fast jeden Prozess gegen Weinstein und seine frühere Firma beenden. Die Frauen, die der Einigung zugestimmt haben, können nicht mehr rechtlich gegen ihn vorgehen.

Zäsur für die Me-Too-Bewegung

Aktivistinnen der MeToo-Bewegung muss diese Lösung wie ein Hohn vorkommen. Weinstein selbst bräuchte laut der Vereinbarung die fälligen knapp 25 Millionen US-Dollar gar nicht selbst zahlen, dies sollen die Versicherungen tun, die seine inzwischen bankrotte Filmproduktionsfirma Weinstein Company vertreten. Und er müsste durch diese Regelung kein Fehlverhalten zugeben. Weinstein hat bisher alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe zurückgewiesen und betont, jegliche sexuellen Kontakte seien freiwillig erfolgt.

Deshalb erscheint der Strafprozess umso bedeutsamer, der nun gegen den 67-Jährigen im State Supreme Court in Manhattan beginnt. Für viele Frauen, die in den vergangenen zwei Jahren für die MeToo-Bewegung gekämpft haben, markiert dieser Tag eine Zäsur. Endlich sitzt der Mann, der sich jahrzehntelang allen juristischen Konsequenzen entziehen konnte, auf der Anklagebank.

Harvey Weinstein, wie er im Mai 2018 von der Polizistin Keri Thompson und dem Polizisten Nicholas DieGaudio abgeführt wird.
Harvey Weinstein, wie er im Mai 2018 von der Polizistin Keri Thompson und dem Polizisten Nicholas DieGaudio abgeführt wird.

© REUTERS/Amr Alfiky

Endlich muss er sich äußern zu den Vorwürfen, die zwei Frauen gegen ihn erhoben haben: Ein bisher nicht namentlich bekanntes mutmaßliches Opfer beschuldigt Weinstein, sie im März 2013 vergewaltigt zu haben; und die ehemalige Produktionsassistentin Mimi Haleyi wirft ihm vor, er habe 2006 gegen ihren Willen Oralsex an ihr vollzogen.

Weinstein wird unter anderem rape in the first degree und predatory sexual assault zur Last gelegt, also Vergewaltigung und Nötigung, die besonders schwerwiegend ist oder wiederholt verübt wurde. Kurz: Es geht um die Frage, ob Weinstein fortgesetzte sexuelle Belästigungen begangen hat.

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Die Staatsanwaltschaft wird höchstwahrscheinlich zu beweisen versuchen, dass Weinsteins Übergriffigkeit gegenüber Frauen System hatte. Ähnlich war das im Prozess gegen Bill Cosby, der im April 2018 wegen sexueller Nötigung verurteilt worden ist und deswegen derzeit eine Haftstrafe von dreieinhalb Jahren absitzt; im Dezember 2019 erst bestätigte ein Berufungsgericht das Urteil.

Im ursprünglichen Prozess waren lediglich Straftaten Cosbys gegen Andrea Constand verhandelt worden. Geschadet hatten Cosby aber auch die Aussagen fünf anderer Frauen, die den Geschworenen vor Gericht berichtet hatten, sie seien ähnlich wie Constand ebenfalls von dem Entertainer unter Drogen gesetzt und sexuell attackiert worden. Das hatte der Staatsanwaltschaft erlaubt, von einem Verhaltensmuster des Angeklagten zu sprechen.

Unter Vorwänden ins Hotelzimmer gelockt

Entscheidend im Weinstein-Prozess könnte die Aussage der ehemaligen Sopranos-Darstellerin Annabella Sciorra werden. Der eigentlich für Anfang September geplante Prozess war kurzfristig verschoben worden, weil das Gericht die Schauspielerin als Zeugin zugelassen hatte.

Im US-Justizsystem kann die Staatsanwaltschaft auch Aussagen von Zeugen im Prozess berücksichtigen, deren Fälle – wie der Sciorras – bereits verjährt sind. Dem New Yorker hat die Schauspielerin berichtet, wie Weinstein sie in ihrem Apartment vergewaltigt und sie auch in den Jahren danach verfolgt und belästigt habe.

US-Schauspielerin Rose McGowan war eine der ersten, die Weinstein öffentlich beschuldigte, sie vergewaltigt zu haben.
US-Schauspielerin Rose McGowan war eine der ersten, die Weinstein öffentlich beschuldigte, sie vergewaltigt zu haben.

© Matt Licari/Invision/AP/dpa

Zeugenaussagen wie Sciorras werden nicht nur für die Glaubwürdigkeit der beiden Klägerinnen entscheidend sein, sondern auch für die öffentliche Wahrnehmung des Falls. Denn es gab eben nicht nur die überwältigende Solidaritätswelle von MeToo, sondern auch die Stimmen, die es immer gibt in Fällen, in denen Frauen einem mächtigen Mann sexuelle Belästigung vorwerfen. Die Frauen seien ja selbst schuld, sie hätten ja nicht zu Weinstein aufs Hotelzimmer gehen müssen, es sei doch klar, was dann passiere. Sei das nicht vielmehr ein Handel gewesen – sexuelle Gefälligkeiten gegen eine Rolle in einem Hollywoodfilm?

Auch hier erzählen die mutmaßlichen Opfer etwas anderes: Weinstein habe Treffen häufig unter einem Vorwand von der Hotellobby in sein Zimmer verlegt, zum Beispiel, weil er noch ein Buch holen wollte, schreibt Farrow in seinem im Oktober 2019 erschienenen Buch Durchbruch (im Original Catch and Kill). Er zitiert einen ehemaligen Assistenten der Weinstein Company, der dafür zuständig gewesen sei, junge Frauen zu sogenannten Honigfallen-Treffen in Weinsteins Hotelzimmer zu locken und ihnen den Anschein zu vermitteln, dabei handele es sich um normale Besprechungstermine.

Der Mann im Bademantel

Liest man Farrows Buch und vergleicht die dort erwähnten Schilderungen von Schauspielerinnen und Weinstein-Mitarbeiterinnen mit den Anschuldigungen, die Frauen in anderen Publikationen geäußert haben, so ähneln sich die Schilderungen in vielen Punkten. So fanden die beschriebenen Übergriffe fast ausschließlich in Hotelzimmern oder den Wohnungen der Frauen statt. Weinstein habe Massagen eingefordert oder habe die Frauen selbst massieren wollen, habe sich ihnen im Bademantel oder nackt gezeigt, vor ihnen masturbiert oder habe sie gezwungen, Oralsex zuzulassen.

Den Berichten nach setzte der ehemalige Produzent nicht nur verbale Drohungen ein, etwa die Karrieren der Frauen zu ruinieren, sollten sie sich ihm verweigern. Mehrere Frauen berichteten, Weinstein sei auch gewalttätig geworden, habe versucht, ihnen Kleider vom Leib zu reißen. Die Schauspielerin Mira Sorvino erzählte Farrow, Weinstein sei ihr durchs Hotelzimmer hinterhergejagt.

Er ließ die Anklägerinnen beschatten

Ronan Farrow beschreibt in seinem Buch außerdem, dass Weinstein nicht nur seine Anwältinnen und Anwälte beauftragt habe, Druck auf Medien und die Frauen auszuüben, mit denen er gesprochen hatte. Sondern auch externe Unternehmen engagierte, die Frauen zu überwachen und Material zu sammeln, das sie diskreditieren sollte. Auch er selbst sei über einen längeren Zeitraum von der israelischen Firma Black Cube beschattet worden, schreibt Farrow.

Das Unternehmen, das für seine Nachforschungen ehemalige Mitarbeiter des israelischen Geheimdienstes Mossad beschäftigte, hatte sich im Herbst 2017 dafür entschuldigt, Informationen über die Frauen gesammelt zu haben. „Rückblickend ist es eine Schande, dass wir den Job übernommen haben“, sagte das Vorstandsmitglied Ascher Tischler.

2017 wurden die Frauen, die die #MeToo-Bewegung nach Weinstein in Gang setzten, von der Time als „Person des Jahres geehrt“.
2017 wurden die Frauen, die die #MeToo-Bewegung nach Weinstein in Gang setzten, von der Time als „Person des Jahres geehrt“.

© AFP PHOTO / TIME INC./BILLY & HELLS/HANDOUT

Rose McGowan, eine der ersten Schauspielerinnen, die Weinstein der Vergewaltigung bezichtigt hatte, reichte im Oktober 2019 eine Klage ein, in der neben Weinstein auch dessen Anwälte Lisa Bloom und David Boies sowie Black Cube Betrug, Verletzung der Privatsphäre und Verschwörung vorgeworfen werden. Es gehe „um den teuflischen und rechtswidrigen Versuch eines der mächtigsten Männer Amerikas und seiner Vertreter, Opfer von sexueller Gewalt zum Schweigen zu bringen“, heißt es in der Klageschrift. Weinsteins Anwältin wies McGowans Anschuldigungen zurück, ebenso der Rechtsbeistand von Lisa Bloom.

Weinstein fordert „Respekt“ dafür, dass er Frauen gefördert habe

Weinstein präsentiert sich indes selbst als Opfer. In einem Anfang Dezember veröffentlichten Interview mit der New York Post ließ er sich mit einer Gehhilfe fotografieren, die er nach einer Operation benötigte. In dem Gespräch forderte er Respekt für seinen beruflichen Umgang mit Frauen ein. Er habe Regisseurinnen gefördert und etwa Gwyneth Paltrow eine Rekordgage verschafft. Paltrow hatte Weinstein im Herbst 2017 ebenfalls Belästigung vorgeworfen.

„Ich fühle mich wie ein vergessener Mann“, sagte Weinstein der New York Post. Nun wird dieser Mann durch den Prozess gegen ihn wieder ins Bewusstsein einer großen Öffentlichkeit gelangen. Der Beginn ist wenig spektakulär, in den ersten beiden Wochen werden die Geschworenen für die Jury ausgesucht, danach erst werden die Eröffnungsplädoyers gehalten.

Das Verfahren hat nicht nur symbolische Bedeutung für die MeToo-Bewegung und das Recht von Frauen auf sexuelle Selbstbestimmung, es geht darin auch um viele gesellschaftliche Missstände. Darum, dass es für Reiche in den USA nach wie vor leicht zu sein scheint, sich aus der Verantwortung zu kaufen. Gefragt, was er nach dem Vergleich zwischen Weinstein und zahlreichen Frauen empfunden habe, sagt Ronan Farrow im Vanity Fair-Podcast Inside the Hive, dieser weise auf „ein systemisches Problem“ hin, die „Kluft zwischen den Besitzenden und den Nichtbesitzenden“.

Viele Frauen schrecken davor zurück, sich öffentlich zu äußern

Die Zurückhaltung vieler Frauen, ihre Anschuldigungen vor Gericht vorzubringen, ist ein weiterer Punkt. Natürlich hätte ein Prozess mehr Wucht bekommen, wenn 80 statt nur zwei Klägerinnen aufgetreten wären. Aber abgesehen davon, dass viele Fälle bereits verjährt sind, ist die Angst vieler Frauen, sich einer zu erwartenden Weltöffentlichkeit zu stellen, absolut nachvollziehbar. Ein abschreckendes Beispiel war zuletzt der Fall von Christine Blasey Ford.

Die Professorin hat im Nominierungsprozess von Brett Kavanaugh zum Richter am US Supreme Court vor dem Justizausschuss des US-Senats ausgesagt, dass dieser ihr in der gemeinsamen Studienzeit sexualisierte Gewalt angetan habe. Kavanaugh bestreitet den Vorwurf. Mit der Mehrheit der Republikaner im Senat wurde er nach der Anhörung ans oberste Gericht der USA berufen. Blasey Ford wurde nicht nur öffentlich gedemütigt, sie erhielt nach ihrem Auftritt im Senat offenbar auch Morddrohungen.

„Alles hat sich geändert – und zugleich hat sich nichts geändert“

Viele Übergriffe bleiben weiter unentdeckt, gerade auch in Hollywood. Sie höre nahezu jeden Tag Geschichten über sexuelles Fehlverhalten, sagt etwa die Journalistin Kim Masters vom Hollywood Reporter. Filmstudios würden weiter versuchen, alles unter den Teppich zu kehren, und gingen juristisch gegen mögliche Enthüllungsgeschichten vor. „Alles hat sich geändert, und zugleich hat sich nichts geändert“, resümierte die New York Times-Journalistin Jodi Kantor, die mit ihrer Kollegin Meghan Twohey die Vorwürfe gegen Weinstein als Erste aufgedeckt hatte.

„Dinge, die noch vor einigen Jahren akzeptiert, toleriert, ignoriert wurden, werden jetzt viel ernster genommen.“ Zugleich hätten sich die grundlegenden Mechanismen, um solche Vorfälle zu verhindern und mit ihnen umzugehen, kaum verändert, sagte Kantor der Vanity Fair. Viele Fälle blieben weiterhin im Dunkeln, bestätigte Twohey. Unter anderem durch geheime Vereinbarungen, sogenannte non-disclosure agreements (NDA), bei denen mutmaßliche Opfer im Gegenzug für Verschwiegenheit finanziell entschädigt werden.

Mit Weinstein sitzt nun ein einzelner Mann auf der Anklagebank. Nur über die ihm zur Last gelegten Taten wird verhandelt. Dennoch steht der Prozess gegen Harvey Weinstein symbolisch für viel mehr. Dass er stattfindet, ist ein wichtiger Schritt. Wie er abläuft und endet, wird den künftigen Umgang mit sexualisierter Gewalt maßgeblich prägen.

Carolin Ströbele

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