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Panorama: Sein wahres Gesicht

Forscher wollen herausgefunden haben, wie William Shakespeare wirklich aussah

Wer war William Shakespeare? Diese Frage stellt sich die Literaturwissenschaft seit Jahrhunderten. Eine Ironie der Geschichte will, dass ausgerechnet das Leben des einflussreichsten Dichters der Neuzeit (1564-1616) nicht eindeutig belegt ist. Nicht nur die Zahl der Deutungen seiner Werke, auch die Bücher, die sich darum drehen, ob und wie er wirklich gelebt hat, sind Legion. Goethe und Schiller haben ihn enthusiastisch gefeiert, die Übersetzungen von Schlegel und Tieck machten seine Dramen in Deutschland populär wie sonst nur die Bibel – aber niemand weiß wirklich, wie er überhaupt aussah. Forscher haben nun herausgefunden, dass nur ein einziges seiner Porträts authentisch ist: Das so genannte Chandos-Bild hängt seit 1856 in der National Portrait Gallery in London und wird dort vom 2. März bis 29. Mai in der Ausstellung „Searching for Shakespeare“ („Suche nach Shakespeare“) ausgestellt, mit ihm fünf weitere Bilder. Bei allen ist unklar, wer der Dargestellte ist. Das Chandos-Bild, entstanden zwischen 1603 und 1610, wurde durch digitale Bearbeitung so verändert, dass es einen etwa 40-jährigen Mann zeigt, dessen Aussehen dem entspricht, was Zeitgenossen über Shakespeares Äußeres berichten.

Die Suche nach dem „echten“ Shakespearebild läuft schon seit Jahren. Die Authentizität seiner vermeintlichen Porträts wurde ebenso oft in Zweifel gezogen wie die Urheberschaft seiner Werke. So geistert noch heute der „Bacon-Mythos“ durch die Literaturwissenschaft, wonach Shakespeares Dichtungen in Wahrheit aus der Feder des Renaissancephilosophen Francis Bacon stammen. Eine andere Theorie sieht in seinem Zeitgenossen Christopher Marlowe (1564-1593) den wirklichen Shakespeare. Grund für diese Annahmen ist zum einen der Mangel an überlieferten Selbstzeugnissen des Dichters; zum anderen wird eingewandt, dass der intellektuelle Anspruch seiner Werke mit der obskuren Herkunft ihres Autors nicht vereinbar sei: Über Shakespeares Jugend, insbesondere seine Schulbildung gibt es keine verlässlichen Auskünfte, einzig Taufe, Hochzeit (1582) und sein erster öffentlicher Auftritt in London (1592) sind schriftlich dokumentiert. Auch um seinen Tod 1616 ranken sich zahlreiche Legenden, wenngleich feststeht, dass er in seiner Geburtsstadt Stratford-upon-Avon starb und dort auch beigesetzt ist.

Es gehört, so scheint es, zum echten Ruhm, dass der Nachwelt nie ganz klar wird, wen er eigentlich betrifft. Nicht nur Shakespeares Lebensumstände, auch die seiner Dichterkollegen Homer oder François Villon bleiben bis heute im Dunkeln. Platon wiederum, von dem der Philosoph Whitehead sagte, das ganze abendländische Denken sei eine einzige Fußnote zu seinem Werk, bezieht sich in seinen Dialogen auf einen gewissen Sokrates, von dem kein Mensch weiß, ob er je gelebt hat. Ganz gleich, für wie authentisch das nun ausgestellte Shakespeareporträt in der Wissenschaft gelten wird: das Shakespearerätsel wird gewiss weiterhin die Gemüter erhitzen.

Konstantin J. Sakkas

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