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Sonntags-Interview: Kathy Reichs: „Am schlimmsten sind Wasserleichen“

Sie hat zwei Jobs: Kathy Reichs schreibt Krimis – und analysiert menschliche Knochen. Warum ein Serienkiller sie bedrohte und sie lieber mit Spinnen spielte als mit Puppen

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Mrs. Reichs, bitte erklären Sie uns: Wann wird eine forensische Anthropologin wie Sie gerufen?

Man holt mich, wenn eine Leiche entdeckt wird, deren Körper stark beschädigt ist. Kann der Pathologe keine Autopsie mehr durchführen, dann zieht er jemanden wie mich hinzu.

Was muss man sich unter einer beschädigten Leiche vorstellen?

Verbrannt, mumifiziert, zerstückelt, verwest, eine Leiche, der man nicht mehr ansieht, ah, das ist Joe Soundso.

Sie sind ziemlich hart im Nehmen.

Wenn Sie sich an Verwesungsgeruch und den Anblick von Maden nicht gewöhnen, ist das der falsche Job.

Beschreiben Sie uns bitte den Tatort. Wie viele Menschen stehen da herum?

Das ist ganz verschieden. Wenn ich komme, hat die Polizei den Tatort bereits gesichert, Schaulustige und die Medien müssen auf Abstand gehalten werden. Es gibt aber Fälle, bei denen außer uns niemand da ist – etwa, wenn das Opfer tief im Wald liegt. Da sind nur die Leute von der Crime Scene Unit, alles in allem nicht mehr als ein halbes Dutzend.

Wie viele davon sind Frauen?

Manchmal gibt es außer mir keine. Obwohl sich das seit den 80er Jahren schon sehr verändert hat. Ein Journalist hat das mal vor ein paar Jahren durchgezählt, bei den forensischen Anthropologen kam er auf ein Verhältnis von drei Männern auf eine Frau. Bei den forensischen Zahnärzten steht es 99 zu eins zugunsten der Männer.

Hatten Sie je Probleme, ernst genommen zu werden?

Eigentlich sind alle dankbar für meine Expertise. Früher gab es Fälle, in denen sie mir das Leben schwer machten und mich aufzogen. Wenn ich den Boden siebte, um nach Resten zu suchen, fand ich plötzlich neue, noch glänzende Kugelhülsen.

Im Fernsehen wird am Tatort schon mal geflirtet.

Nur dort. Ich trage keine Pumps und Nylons, sondern einen Ganzkörperschutzanzug mit Reißverschluss bis zum Hals. Wie die Heldin in meiner Fernsehserie „Bones“ übrigens auch.

Wie lange bleiben sie am Tatort?

Auch da kommt es darauf an, ob es eine verbuddelte, verbrannte oder offenliegende Leiche ist, ob sie an ein Ufer gespült wurde oder wir sie aus einem Abwassertank holen müssen. Der muss zuerst abgepumpt werden, das hatten wir schon. Oder wenn wir weit verstreut liegende Leichenteile haben. Kürzlich hatte ich in den USA mit der Aufklärung eines Kindermordes zu tun, da nahm die Aufarbeitung des Fundortes mehrere Tage in Anspruch.

Verfolgt Sie solch ein Fall bis nach Hause?

Natürlich wirken einige stärker nach als andere. Am schwierigsten finde ich es, wenn Kinder die Opfer sind. Wenn ich einen Drogendealer habe, der erstochen wurde, weil er jemanden angriff, dann gehe ich da weniger mit. Doch grundsätzlich gilt: Sie brauchen die Denkhaltung, dass Sie ein Wissenschaftler sind. Sie folgen einfach dem Protokoll.

Wir hörten, Verwesungsgeruch dringt in jede Pore.

Sie kennen doch diesen süßen, fettigen Geruch, wissen selbst, wie das riecht, wenn ein Eichhörnchen auf ihrem Dachboden gestorben ist.

Eigentlich nicht.

Am schlimmsten ist es bei Wasserleichen. Aber wenn ich im Labor an einem stinkenden Fall arbeite, trage ich Schutzanzug, Handschuhe, Mundschutz und Haarhaube. Zu Hause dusche ich, wasche mir die Haare, mehr brauche ich nicht. Übrigens: Eine mumifizierte Leiche, da riecht nichts. Ich hatte so einen Fall, ein Mann war in einen Schornstein in Montreal gefallen und völlig ausgetrocknet, bevor er entdeckt wurde.

Sie verarbeiten Ihre Fälle in Krimis. Ist das ein Weg, Dinge, die einen belasten, wieder loszuwerden?

Es ist zumindest befriedigend, weil im Krimi jeder Fall gelöst wird. In meinem realen Labor in Montreal gibt es einen Raum, der natürlich nicht so stylish aussieht wie der bei „Bones“ im Fernsehen. Ich habe kein Regal mit Hintergrundstrahlern, wo die Knochen schön beleuchtet sind. Ich habe einen Schrank mit Holzregalen und Pappkartons. Und jeder beinhaltet Knochen, die nie identifiziert wurden. Oder sie wurden identifiziert, aber niemand wurde zur Rechenschaft gezogen.

Sind das viele Fälle?

Ungelöst blieben nur wenige. Ich habe ein kleines Kind seit 1989 in meinem Schrank. Wir nehmen DNA-Proben, aber wenn wir nichts haben, womit wir sie abgleichen können, dann wird die Identifizierung schwierig.

In Ihren Romanen schildern Sie gern ausführlich die wissenschaftlichen Details. Mit Liebesszenen halten sie sich eher zurück. Fallen solche Szenen schwerer als ein Mord?

Wenn Sie das so sagen, klingt das, als sei ich eine kaltherzige, gefühllose Person, die sich hinter der Wissenschaft versteckt. Ich bin eine neutrale Expertin. Mir ist es egal, ob die Ergebnisse der Verteidigung oder der Anklage dienen. Das heißt aber nicht, dass ich nicht manchmal an das weibliche Skelett denke, das vor mir auf dem Tisch liegt. Meine Heldin tut das oft. Sie fragt sich, was die Frau an ihrem letzten Tag auf Erden gemacht hat, ob es ein schöner Tag war und so weiter. Als ich noch Archäologin war und mit 2000 Jahren alten Skeletten arbeitete, habe ich mich das auch gefragt.

Macht es für Sie emotional einen Unterschied, ob ein Skelett 2000 oder zwei Jahre alt ist?

Archäologen denken mehr über Populationen nach, nicht an den Einzelnen. Sie versuchen zu verstehen, wie viele Männer und Frauen es an diesem Ort gab, wie lange sie dort lebten, welche Krankheiten sie hatten. In der Forensik konzentrieren wir uns auf den Einzelnen. Wir wollen herausfinden, wer das war und wie er gestorben ist.

Warum haben Sie sich damals für die Forensik und gegen die Archäologie entschieden?

Die Polizei ist zu mir gekommen. Zu Beginn der 80er Jahre wurde einfach gesagt, bringen wir doch das Skelett zu der Knochenlady an der Universität. Und mir gefiel die Relevanz, die das hatte. Wenn sie in der Archäologie falsch liegen, gibt es eine akademische Debatte, aber es hat keine Auswirkungen auf das Leben einer Person. Wenn Sie ein vermisstes Familienmitglied identifizieren, ist das ganz etwas anderes.

Sie sagten gerade, Sie stellen sich manchmal die Person hinter den Knochen vor.

Erst nachdem ich alle Analysen gemacht und mit der wissenschaftlichen Arbeit abgeschlossen habe. Ich bekomme zwei Arten von Fällen. Entweder, wir wissen nicht wer das ist, oder wir haben eine vermutete Identität. Bei Letzterem können wir das mit der DNA oder Zahnarztunterlagen abgleichen. Bei einer unbekannten Person ist es meine Aufgabe, der Polizei ein Profil zu geben, das Geschlecht, das Alter, ob er weiß ist oder Afroamerikaner, welche Unfälle er oder sie hatte, zum Beispiel, dass die gesuchte Person sich mit neun Jahren den Arm gebrochen hatte.

Sie identifizierten Opfer nach den Anschlägen vom 11. September, arbeiteten in Massengräbern in Guatemala und Ruanda. Wie können Sie angesichts des Ausmaßes solcher Taten Distanz wahren?

Menschenrechtsarbeit kann auf verschiedenen Ebenen stattfinden. Ein Zweck ist es, ein Massengrab zu öffnen und festzustellen, dass eine Gräueltat stattgefunden hat. Das nächste Level ist es, die Identität der Opfer festzustellen und sie ihren Familien wiederzugeben. Beim dritten Level geht es darum, Anklage zu erheben. Sie wollen, das jemand bezahlt. Aber dafür müssen Sie die richtigen Leute erwischen. Wenn Sie die Opfer einfach nur ausbuddeln, dann zerstören Sie Spuren, die für die Anklageerhebung gebraucht werden. Deshalb ist es wichtig, einen kühlen Kopf zu bewahren und methodisch zu arbeiten.

Wann genau begann Ihr Interesse für Knochen?

Ich war schon immer an Naturwissenschaft interessiert, sammelte als Kind lieber Frösche und Spinnen, anstatt mit Puppen zu spielen.

Wir hörten, Sie waren auch sehr experimentierfreudig und überredeten Ihre Schwester, von einer Leiter zu springen.

Es war ein Experiment mit Fallschirmen. Ich sprang mit einer Tischdecke von der Leiter und nichts passierte. Sie blieb mit ihrem Tuch leider an einer Ecke hängen, das ging dann schief. Pech. Für die Wissenschaft hatte sie auch später kein großes Interesse mehr.

Haben Sie so etwas wie einen Lieblingsknochen?

Manche geben mir mehr Informationen als andere. Deshalb habe ich den Schädel und das Becken am liebsten. Die allein verraten ihnen eine Menge: Alter, Geschlecht, Rassenzugehörigkeit. Wenn ich ein Opfer zu sehen kriege, kann es sein, dass Tiere sich schon einen Teil geholt haben. Da ist ein vollständiges Becken eine gute Sache.

Früher war die Forensik eine Randdisziplin. Heute sind Sie und Ihre Kollegen aus der Pathologie Fernsehhelden. Kein Krimi kommt ohne Autopsie aus.

Wir arbeiten ja normalerweise im Labor. Ich weiß auch nicht, warum all diese forensischen Pathologen, Anthropologen, Psychologen plötzlich ein Thema in der Öffentlichkeit wurden.

Schauen Sie sich Fernsehserien wie „CSI“ an?

Ja, aber ich finde sie ein wenig unfair. Die haben Möglichkeiten, die gibt es gar nicht. Da wird der menschliche Darm in seiner Molekularstruktur untersucht, obwohl nicht mehr übrig ist als das Faulgas. Der DNA-Test ist nach 20 Minuten fertig, und natürlich arbeiten sie mit diesen dreidimensionalen, holografischen Rekonstruktionstechniken, die sich kein Labor leisten kann. Am Ende denkt das Publikum, es lernt da was.

Vielleicht ist die Wissenschaft heute an die Stelle von Religion getreten: Viele Menschen glauben an ihre Allmacht.

Philosophisch gesehen hat die Bedeutung der Wissenschaft im gleichen Maß zugenommen, wie die Religion verloren hat. Letztendlich bemühen sich ja auch beide, ähnliche Fragen zu beantworten: Wie kommen wir hierher, wie konnte das passieren, und warum geht die Sonne auf? Über Jahrhunderte haben wir diese Fragen metaphysisch beantwortet, nun versuchen wir es konkret.

Wenn Sie einen toten Körper sehen, betrachten Sie den noch als menschliches Wesen oder ist das für Sie eine Hülle, die zurückgeblieben ist, nachdem die Seele den Leib verlassen hat?

Es ist ein toter Mensch, und ich behandele ihn nicht wie ein Stück Fleisch, sondern mit Würde.

In Ihren Büchern klingt das oft anders. Da ist die Rede davon, dass Sie das Fleisch erst einmal vom Knochen kochen müssen.

Das kann erforderlich sein, weil ich an den Knochen herankommen muss.

Kann man sich nach so einem Tag zu Hause an den Herd stellen und das Abendessen zubereiten?

Sie dürfen sich das nicht so vorstellen, dass ich da im Labor am Herd stehe. Das sind Maschinen, entworfen für Großküchen, das hat gar nichts mit dem zu tun, was ich zu Hause mache.

Haben Sie mit Ihren Kindern jemals über den Tod gesprochen?

Ich denke, so wie alle Eltern das machen. Es gab da einmal einen kleinen Unfall, meine Tochter ließ den Deckel ihrer Spielzeugkiste auf ihre Schildkröte fallen, da war sie sieben. Clark rührte sich nicht mehr. Ich habe ihr also erklärt, dass ihre Schildkröte nun an einem anderen, besseren Platz sei, und meine Tochter widersprach, nein, Clark würde nur schlafen. Ich sagte, Schatz, tut mir leid, aber sie ist tot. Und dann ist Clark aufgewacht und losgelaufen. Ich schwöre, diese Schildkröte sah wirklich tot aus.

Ihre Tochter Kerry schreibt inzwischen selbst Romane. In einem Interview sagte Kerry einmal: Immer wenn meine Mutter mit Kriminalfällen zu tun hatte, in denen Kinder betroffen waren, zog sie die Zügel zu Hause deutlich an.

Ich weiß nicht, ob ich das mit Absicht gemacht habe, wahrscheinlich eher unbewusst aus dem Bedürfnis heraus, sie zu beschützen.

Für die meisten ist Verbrechen abstrakt. Sie sehen oft in menschliche Abgründe. Macht Sie das ängstlich?

Ich bin mit den Folgen konfrontiert und habe dennoch wenig damit zu tun. Schauen Sie, wenn ich mich von speziellen Teilen der Stadt fernhalte, habe ich schon mal nichts mit dem Drogenhandel und seinen Begleiterscheinungen zu tun. Das macht einen gewaltigen Prozentsatz auch an Gewaltverbrechen aus. Der große Rest sind Taten aus Leidenschaft: Ehemänner, die ihre Frauen totschlagen oder Frauen, die ihre Männer erdolchen. Da fühle ich mich auch nicht besonders gefährdet.

Was ist mit dem Serienkiller, der in Krimis eine große Rolle spielt?

Der ist sehr selten. Aber wir sollten nicht nur über Verbechen reden, wir haben natürlich noch die Selbsttötungen, Unfälle, unerklärliche Tode. Ich lerne daraus, dass das Leben sehr schnell und unerwartet zu Ende sein kann.

Und das macht Ihnen keine Angst?

Es macht mich vorsichtiger. Wissen Sie, was mich wirklich ängstigt? Das ist das Wissen um die Existenz von gefährlichen Mikroorganismen. Die meisten von uns werden nicht erschossen oder vom Zug überfahren, die gehen ins Krankenhaus wegen einer Mandeloperation und holen sich etwas wirklich Gefährliches. Das war doch hier bei Ihnen, diese Sache im Frühjahr mit den Sojasprossen.

Sie sind noch nie Opfer eines Verbrechens geworden.

Einmal in Chicago, da hat mich ein Taschendieb bestohlen. Natürlich habe ich auch schon Drohungen erhalten, als ich in einem Gerichtssaal mein Gutachten präsentierte. Es gab da jemanden, der sagte, er würde mich umbringen. Glücklicherweise wurde er verurteilt und kam ins Gefängnis.

Und da ist er immer noch?

Ich kann mir nicht vorstellen, dass er schon wieder frei ist, denn er war wirklich ein Serienkiller. Wenn, würde ich hoffentlich informiert werden.

Hatten Sie jemals Albträume? Solche, in denen all die Toten, die Sie gesehen haben, Sie heimsuchen?

Ich finde, Zombies sind ein kulturell interessantes Konzept. Es reflektiert unsere Angst vor dem Tod. Aber im Traum sind sie mir noch nie erschienen. Der Albtraum, den ich kenne, handelt von einem Schädel, den ich Stück für Stück wie ein Puzzle wieder zusammen setzen musste.

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