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Nik Wallenda tastet sich mit vorsichtigen Schritten auf dem Seil über dem Grand Canyon vor.

© dpa

Stunt über dem Grand Canyon: Hochseilartist Nik Wallenda läuft über den Abgrund

Da hilft nur beten. 22 bange Minuten dauerte das Seil-Spektakel am Grand Canyon, das live im Fernsehen übertragen wurde.

Die letzten Meter rannte er über das Stahlseil, die Füße leicht schräg gestellt, die Gesichter seiner Frau und Kinder vor Augen. Mit einem befreiten Lachen sprang Nik Wallenda vom Seil, küsste den trockenen Boden von Arizona – er hatte, wieder einmal, Geschichte geschrieben: Als erster Mensch war der 34-Jährige gerade auf einem Seil über den Grand Canyon gelaufen, jene gewaltige Schlucht, die sich 400 Kilometer lang und bis zu 1800 Meter tief durch den amerikanischen Westen frisst.

Die Anziehungskraft des Grand Canyon ist legendär: Der Nationalpark gehört zu den meistbesuchten in Amerika. Wagemutige Touristen tasten sich schon mal Schritt für Schritt bis zum Abgrund vor, um dann mit Grauen und Bewunderung nach unten zu blicken. Abenteurer zog es immer hierher, erst die Kletterer, dann die Basejumper – mehr als sechshundert Menschen fanden hier den Tod.

Nik Wallenda gehört einer alten Akrobaten-Familie an

Nik Wallenda wagte mehr als alle anderen – es liegt in der Familie: Seit sieben Generationen sind die Wallendas Akrobaten und Hochseilartisten, ihre Anfänge liegen im 19. Jahrhundert in Magdeburg. Erst 1928 führte Karl Wallenda seine Familie in die USA, etablierte dort „The Flying Wallendas“, deren Mitglieder auf dem Drahtseil vierstöckige Pyramiden formten und Fahrrad fuhren. Die Wallendas erlangten Weltruhm – dann schlug das Schicksal zu: Bei einem Drahtseilakt in Puerto Rico strauchelte der 76-jährige Karl und stürzte in den Tod. Ein Jahr später kam Urenkel Nik zur Welt, der heute der Superstar der Truppe ist und sieben Weltrekorde hält.

Doch nichts bereitete den jungen Mann aus Florida auf seinen jüngsten Akt vor – und das erlebten Millionen von Fernsehzuschauern mit, die das Projekt „Skywire“ am Grand Canyon live verfolgten. Obwohl Wallenda monatelang trainiert und mit gewaltigen Rotoren sogar die komplizierten Wind- und Thermikverhältnisse im Grand Canyon nachgestellt hatte, gab er sich nach den ersten Schritten recht unsicher. Zweimal musste Wallenda sogar auf dem Seil niederknien, um den Schwerpunkt zu senken und die dramatischen Schwingungen zu bremsen.

Sein Selbstvertrauen indes verlor er in keinem Moment – das Vertrauen auf Gott auch nicht. Der tiefreligiöse Wallenda hatte für seinen größten Akt den amerikanischen Fernsehprediger Joel Osteen eingeflogen, mit dem die Familie noch betete, bevor sich der Star auf die andere Seite des Canyon fliegen ließ. Einen Abschied von der Familie gab es traditionell nicht, nur ein legeres „Ich sehe euch in ein paar Minuten“.

Das ist Tradition bei Wallenda, ebenso wie der Drang, ohne Sicherung zu laufen. Der Sender ABC hatte das bei seinem letzten Abenteuer nicht zugelassen: Bei seinem Lauf über die Niagara-Fälle vor einem Jahr musste Wallenda ein Sicherungsseil tragen – diesmal sollte es ohne gehen.

Die Familie von Nik Wallenda war in das Projekt voll eingespannt

Sicherheit fand Wallenda dann in seinem Glauben. Zweiundzwanzig Minuten lang dankte er dem Vater im Himmel für seine Sicherheit, für die einmalige Aussicht auf die Schönheit der Schöpfung, bat Gott die immer stärker werdenden Winde anzuhalten. Handfeste Hilfe bekam Wallenda hingegen von seinem eigenen Vater Terry Troffer, selbst Hochseil-Legende, der Seil, Schwingungen und Schritttempo im Auge behielt und koordinierte.

Troffer hatte sich schon im Vorfeld zuversichtlich gezeigt. Auf die Frage von Fernsehreportern, ob er Angst um seinen Sohn habe, sagte er nur: „Ich weiß, was er kann.“ Wenn es in den Vorbereitungen zu „Skywire“ je Unsicherheiten gab, dann lagen die, Troffer zufolge, auch nie bei Nik, sondern stets bei der Technik. Denn für den Hochseilakt am Canyon mussten innovative Technologien aufgefahren werden. Das mehr als acht Tonnen schwere Seil musste auf beiden Seiten mit jeweils vier Ankern tief in das Wüstengestein betoniert werden, über dem Canyon pendelten alle paar Meter schwere Gewichte vom Seil, die als Stabilisatoren wirken sollten. Für alle wichtigen Details in Planung und Ausführung waren Familienmitglieder zuständig – für Nik Wallenda letztlich die einzige Sicherheit, die er für seinen Akt brauchte.

Und doch: Als Wallenda nach etwas mehr als 22 Minuten seine letzten Schritte rannte und vom Seil sprang, war ihm die Erleichterung anzusehen, den unerwartet starken Winden und dem Risiko entkommen zu sein. Letztlich blieb eine Frage: Was kommt nach dem Grand Canyon? „Ich will in New York von einem Wolkenkratzer zum nächsten laufen“, sagte der 34-Jährige, umringt von seiner Familie. Danach könnte ein Lauf in Deutschland auf dem Programm stehen. „Ich würde sehr gerne in Magdeburg laufen, wo meine Familie herkommt“, sagte Wallenda, als er im September letzten Jahres als „Grand Marshal“ die deutsch-amerikanische Steuben-Parade auf New York’s Fifth Avenue anführte.

Hundert Jahre will er alt werden und hofft, anders als einige seiner Vorfahren, nicht bei einem Stunt zu sterben, sondern „im Bett neben meiner Frau“.

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