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Panorama: Von Wut und Trauer erschüttert

Nach dem Erdbeben in Marokko wächst die Kritik an den Behörden – Überlebende fühlen sich im Stich gelassen

Nach dem schweren Erdbeben in der Nacht zum Dienstag im Norden Marokkos hat eine internationale Hilfsaktion für das Katastrophengebiet begonnen. Hunderte Helfer aus Europa und den arabischen Nachbarländern versuchten zusammen mit einheimischen Rettungskräften, unter den Trümmern von tausenden Häusern noch Überlebende zu finden. Auch Marokkos König Mohammed VI. besuchte die Unglücksregion, um, wie es hieß, „den Untertanen beizustehen“.

Dutzende von Nachbeben erschwerten am Mittwoch die Rettungsarbeiten im bergigen Hinterland der Mittelmeerstadt Al Hoceima und ließen weitere Gebäude einstürzen. Es wird vermutet, dass noch hunderte Menschen verschüttet sind. Nach letzten offiziellen Angaben von Dienstagnacht wurden bisher fast 600 Tote geborgen. Am Mittwoch hörten die Behörden offenbar auf, die Leichen zu zählen. Die tatsächliche Opferzahl dürfte weit über den offiziellen Angaben liegen, sagen Rot-Kreuz-Mitarbeiter.

„Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, aus dem einstürzenden Haus heil herauszukommen“, erzählt ein junger Mann, der seine Eltern und vier Geschwister in der Nacht verlor: „Meine Schwester rief noch um Hilfe, aber ich konnte sie nicht befreien, sie starb.“ Die ersten Helfer seien in seinem Dorf Ait-Kamara erst zehn Stunden nach dem Unglück eingetroffen – ohne Rettungsgerät. Die Zahl der Opfer wagt niemand abzuschätzen. Nicht weit vom Dorf entfernt wartet eine Militärkolonne mit dutzenden Lastwagen darauf, dass ihnen irgendjemand einen Einsatzbefehl erteilt. Überall fehlt den Rettungskräften Ausrüstung, um wirkungsvoll helfen zu können. Aus etlichen Dörfern gab es auch zwei Tage nach dem Beben keine Nachrichten. In der Bevölkerung wächst der Zorn auf die marokkanischen Behörden, die nur schleppend auf die größte Erdbebenkatastrophe in Marokko seit 40 Jahren reagierten. „Wir sind völlig auf uns allein gestellt“, beklagen Überlebende in Ait-Kamara, das rund 15 Kilometer südlich der Provinzhauptstadt Al Hoceima liegt. Ait-Kamara, wo einmal rund 6000 Einwohner lebten, liegt weitgehend in Trümmern. „90 Prozent aller Häuser sind hier zerstört“, berichtet Vizebürgermeister Mohammed Amiou. Die meisten Gebäude waren hier aus Lehm und ein paar Ziegeln gebaut.

Zehntausende obdachlose Menschen in der Katastrophenregion, in der annähernd 400 000 Menschen wohnen, verbrachten die Nacht nach dem Erdbeben im Freien. Am Mittwoch blockierten Dutzende die Landstraße, die von der Küstenstadt Al Hoceima in das vom Beben besonders schwer getroffene Hinterland im Rif-Gebirge führt. Es mangele vor allem an Decken, Zelten, Lebensmitteln, Trinkwasser und medizinischer Hilfe. Aus Sonnenschirmen, Decken und Wäscheleinen bauten sich viele Menschen Schutz. Manche saßen die ganze Nacht auf einem Stuhl – vor den Trümmern ihres Hauses, in dem ihre Familie lebendig begraben worden war. In Plastikplanen gehüllt, weinend und mit der Angst vor neuen Erdstößen.

Unterdessen machten Nachbarschaftsorganisationen und Zivilschutzexperten die lokalen Behörden dafür verantwortlich, dass trotz der seit langem bekannten Erdbebengefährdung in der Region keine Vorsorge getroffen wurde. „Schlechte Bauqualität“ sei dafür verantwortlich, dass tausende Häuser zerstört worden sind. Dabei habe es in den letzten Jahren hunderte kleinere Erdbeben in der Gegend gegeben. Existierende Bestimmungen, dass erdbebensicher gebaut werden müsse, seien nicht respektiert worden.

Ralph Schulze[Madrid]

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