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Panorama: Warten hinter Barrikaden

20 000 Menschen sollen Magdeburg verlassen – aber die Einwohner glauben nicht an ein zweites Dresden

Von Uwe Ahlert, Magdeburg

„Vor fünf Jahren haben wir unser Haus total umgebaut und jetzt so was“, sagt Holger Schmidt und zeigt nach vorn. Da ist die Elbe, nur einen Steinwurf entfernt. Und sie fließt auch hinter dem Einfamilienhaus der Familie Schmidt – die so genannte Alte Elbe in ihrem ursprünglichen Flussbett. Die Leute im Magdeburger Stadtteil Cracau werden die Ersten sein, die die Flut erreicht. Sie sind vom Wasser umzingelt.

Langsam, aber unerbittlich rollt die Welle auf Magdeburg zu. Während in Dresden Land unter ist, in Bitterfeld die Menschen um ihre Existenz kämpfen, war am Freitag in Sachsen-Anhalts Landeshauptstadt eine eigenartige Stimmung zu spüren – die Ruhe vor dem Sturm? In den Einkaufszentren auf der westlichen Uferseite lief das Leben wie gewohnt ab, auch die Eisdielen waren bei 28 Grad Celsius gut gefüllt. Doch Spannung lag in der Luft und viel Sirenengeheul von Polizei und Krankenwagen auch. Am anderen Ufer herrschte rege Betriebsamkeit.

Die Straßen waren verstopft, Laster mit Sand beladen, kamen kaum voran, überall wurden Sandsäcke vor den Häusern gestapelt. Bis zum heutigen Samstag, 19 Uhr, müssen 20 000 Menschen ihre Wohnungen und Häuser verlassen. Die meisten von ihnen leben wie die Schmidts auf der Ostseite der Elbe, da, wo das Ufer nicht so hoch ist und die Flut leichteres Spiel haben wird als auf der anderen Seite.

Anja Reuters aus der Zollstraße 12 zieht mit ihrem sechs Monate alten Kind zu Bekannten in den wasserfreien Stadtteil Olivenernte. Die Wohnung haben die Reuters leer geräumt. „Wir wohnen ja in der ersten Etage, und wenn tatsächlich das Wasser die Straßen drei Meter hoch überfluten sollte, dann haben wir keine Wohnung mehr.“ Bislang hatten die Reuters einen tollen Elbblick, denn die Zollstraße ist Magdeburgs östlichste Uferstraße. Eine begehrte und teure Wohngegend. Wie wird es nach der Flut sein? Aber erst einmal packen alle in dem Mehrfamilienhaus mit an. Fenster werden mit Brettern vernagelt, Kellereingänge zugemauert. Überbackene Käseschnitten machen die Runde. Kurt Lambrecht kaut und wischt sich den Schweiß ab. Er ist kein Cracauer. „Ich bin nur hier, um zu helfen“, sagt der Mann, der aus einem ungefährdeten Stadtteil kommt.

Auch Schwimmstar Franziska van Almsick und ihr Freund, Handballer Stefan Kretzschmar, kämpfen in Cracau gegen die drohenden Elbfluten und verbarrikadieren ihr gerade erst bezogenes Haus. Am Donnerstagabend hatte Kretzschmar bereits beim Sichern seiner Spielstätte mitgeholfen. Statt bei der Präsentation des neuen Logos und des Marketing-Konzeptes zu feiern, packten die Handballer von Champions-League-Sieger SC Magdeburg kräftig mit an.

Solidarität mit den zukünftigen Hochwasseropfern wird groß geschrieben, Nachbarschaftshilfe sowieso. Auch bei den Schmidts helfen Nachbarn, Mitschüler von Tochter Katrin, Freunde und Bekannte. 600 Sandsäcke sind zu füllen, um vielleicht das Ärgste zu verhindern. Katrin Schmidt schimpft: „Erst haben die Säcke 47 Cent gekostet, dann 48, 75 und nun wird schon ein Euro pro Sack verlangt. Diese Wucherei mit dem Leid der anderen ist eine Sauerei.“ Gleich nebenan stapeln die Beinsens und etliche Bekannte 3000 Säcke um ihr Haus.

Über 600 Euro haben sie allein für die Säcke ausgegeben. „Jetzt reicht es, mehr können wir finanziell nicht verkraften, und Säcke gibt es auch nicht mehr. Die meisten haben wir uns aus Berlin und Braunschweig besorgt“, sagt Barbara Beinsen. „Die Stadt tut nichts für uns Privatleute, wir mussten alles selber kaufen.“ Galgenhumor herrscht unter den Schaufelnden. Angst, nein, Angst um Hab und Gut haben die meisten nicht. Es wird gelacht, geschimpft, ein Schluck Bier aus der Pulle genommen und dann wieder in die Hände gespuckt.

An die drei Meter Land unter glaubt so recht keiner. „Sieben Meter zwanzig ist die Staumauer hoch“, hat Holger Schmidt nachgemessen. „Mit acht Metern rechne ich. Klar, die Keller sind futsch, aber bestimmt wird es nicht so schlimm wie in Dresden.“ Seine Frau richtet noch einen speziellen Gruß an alle Befürworter des in Magdeburg heiß diskutierten möglichen Elbausbaus. „Wird die Elbe ausgebaut, gibt es beim nächsten Hochwasser hier keine Häuser mehr.“

In Bitterfeld arbeiten rund 1000 Menschen am Freitag verbissen daran, den eilig errichteten Notdeich am Ufer der völlig überfüllten Goitzsche weiter zu erhöhen. Einige der Helfer stehen bereits bis zur Hüfte im Wasser, das zunehmend durch die Barriere aus zehntausenden Sandsäcken drückt. Im Gegensatz zu der hektischen Betriebsamkeit am Goitzsche-Ufer herrscht in der Stadt nahezu gespenstische Ruhe. Alle Läden und Gaststätten sind geschlossen, Auslagen und Regale leer geräumt, die meisten Hauseingänge mit Sandsäcken gesichert.

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