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Treibgut. Manchmal werden herrenlose Fischernetze an Land gespült. Eine Million Tonnen belasten Jahr für Jahr die Meere.

© imago images/Shotshop

Herrenlose Nylonnetze im Meer: Wie Geisternetze zu Todesfallen für Meerestiere werden

Herrenlose Netze schädigen das Ökosystem der Meere nachhaltig. Die Organisation Healthy Seas geht dagegen vor.

Auch Corona gönnt den mit Plastik zugemüllten Weltmeeren keine Entlastung. Einer jüngsten Studie zufolge seien allein 2020 weltweit 1,56 Milliarden Schutzmasken in den Meeren gelandet, berichtet Jenny Ioannou von der in den Niederlanden registrierten Meeresschutzorganisation Healthy Seas dem Tagesspiegel. Gleichzeitig habe die Pandemie in vielen Ländern das geplante Verbot von Einweg-Plastikprodukten verzögert: „Sie werden wieder vermehrt genutzt, weil sie für hygienischer gehalten werden.“

Bis 2050 könnten die Weltmeere mehr Plastikmüll als Fische beherbergen, so die düstere Warnung von Umweltschützern. Rund ein Drittel davon machen die sogenannten Geisternetze aus: Laut Schätzung des World Wildlife Fund (WWF) enden pro Jahr eine Million Tonnen herrenloser Nylonnetze im Meer.

Nicht befischt, aber doch gefangen: Vor allem für Meeressäuger und Tauchvögel werden die unendlich weiter fischenden Netze zu tückischen Todesfallen. Wenn sich Wale, Delphine, Robben, Kormorane oder Meeresschildkröten in deren Gewebe verheddern, können sie zum Atmen nicht mehr an die Wasseroberfläche gelangen – und verenden qualvoll.

Geisternetze beschädigen zudem nicht nur Korallenriffe und die Meeresvegetation. Sie versperren auch den Zugang zu Laichplätzen und zerstören so den Lebensraum vieler Meeresbewohner. Auch die Fischereiwirtschaft schadet sich mit dem von ihr verursachten Problem letztlich selbst: Die Geisternetze bedrohen auch den Bestand kommerziell befischter Arten.

Doch auch auf den Meeresgrund gesackte Geisternetze sind für das Ökosystem eine Belastung. Bis in die 1960er Jahre wurden Fischernetze aus vergänglichen Naturstoffen wie Hanf, Sisal oder Leinen hergestellt. Nun verrotten die aus synthetischen Materialien gefertigten Netze erst nach 400 bis 600 Jahren. Wie andere Kunststoffreste gelangen auch zerriebene Netzpartikel über Fische, Würmer, Muscheln und Schnecken in die Nahrungskette: Zwei Drittel aller Fische im Nordostatlantik haben bereits Mikroplastik im Magen.

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Es sind keineswegs nur illegale Fischer, die aus Angst erwischt zu werden, ihre Netze im Meer zurücklassen. Vor allem Stürme, aber auch Bootsunfälle bewirken, dass sich Schlepp- oder Stellnetze losreißen, ziellos durch die Meere treiben oder an Wracks und Riffs hängen bleiben.

Ob im Atlantik, dem Pazifik oder dem Mittelmeer: Seit Jahren mühen sich Taucherenthusiasten von Umweltschutzgruppen darum, die an Korallenriffen, Wracks oder Felsen verhedderten Geisternetze vor den Küsten aus den Meeren zu entfernen. Doch nicht nicht nur deren Bergung, sondern auch deren Entsorgung oder Rückführung in den Wertstoffkreislauf ist ein sehr mühsamer Prozess: Verschmutzte Geisternetze sind schwer zu recyceln.

Gefährlich ist die Mischung aus Müll und Netzteilen

Nur Netzteile aus reinem Nylon, Polyethylen oder Polypropylen können recycelt werden. Ein Problem bei der Trennung ist der tief in die Fasern gedrungene Sand, ein anderes die in die Netze zu deren Absenkung verarbeiteten Bleileinen.

Vermischter Plastikmüll wird laut WWF zur Energiegewinnung oft verbrannt, doch dies sei bei Bleirückständen nicht möglich. Blei dürfe gleichzeitig keinesfalls in Recycling-Produkte gelangen: Doch die Mischung aus Müll und Netzteilen, die meist aus den Meeren gefischt werde, sei „kaum in sortenreines Material zu trennen“.

Ein weltweit verbindliches UN-Abkommen zur Reduzierung des Plastikmülls in den Meeren fordern Umweltschutzorganisationen wie der WWF: Der Kampf gegen die Geisternetze müsse dabei eine „zentrale Rolle“ einnehmen. Eine „Kreislaufwirtschaft“ sowie engere Zusammenarbeit zwischen Meeresschutzorganisationen und der Industrie empfiehlt das Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Potsdam zur Vermeidung und Wiederverwertung von Meeresmüll.

Meeresschützer, Taucher und Firmen haben sich zusammengetan

Tatsächlich bündeln Meeresschützer, Fischer und nachhaltig operierende Firmen zum effektiveren Kampf gegen die Geisternetze schon jetzt ihre Kräfte. So gründeten beispielsweise die Taucherorganisation Ghost Diving, der italienische Nylonfaserproduzent Aquafil und der niederländische Öko-Sockenhersteller Star Sock bereits 2013 den weltweit operierenden Verbund Healthy Seas (HS), dem mittlerweile über 200 Taucher und 950 Fischer in Europa, Afrika und Neuseeland angeschlossen sind. Die Vermeidung, Bergung und Wiederverwertung von Geisternetzen hat sich HS zum Ziel gesetzt: Seit der Gründung hat der Verbund schon über 585 Tonnen an Nylonnetzen aus den Weltmeeren gefischt – und zum Großteil neu verarbeitet.

Als einer von Europas größten Produzenten von Kunstfasern für Teppichböden hat sich der 2800 Mitarbeiter zählende Aquafil-Konzern im norditalienischen Arco schon seit Jahrzehnten als Recycling-Vorreiter profiliert. Als Aquafil der Durchbruch bei der Entwicklung des wiederverwertbaren Econyl-Garns aus alten Nylonnetzen gelang, kam es zum Schulterschluss mit Ghost Diving.

Es ist eine fruchtbare Symbiose. Die HS-Taucher bergen gemeinsam mit den Fischern herrenlose Geisternetze, zuletzt vor der Küste der griechischen Insel Ithaka und demnächst vor den deutschen Nordseeinseln Norderney und Sylt. Die Aufräumaktionen gehen mit Workshops für Kinder und Jugendliche zum Problem der Meeresverschmutzung einher.

Bei Aquafil im slowenischen Ljubljana werden die Netzfasern zu Econyl-Garn recycelt. Dieser wird von den HS-Partnern Aquafil und Star Sock zu Öko-Teppichen, Strümpfen oder Badekleidung verarbeitet: 23 000 Paar Socken oder 900 Quadratmeter Teppichböden können aus einer Tonne Geisternetze entstehen.

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