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Marcel Proust: Wo der Dichter die Zeit wiederfand

Marcel Proust wohnte viele Sommer lang im Grand Hotel von Cabourg. Literaturfans können „sein“ Zimmer buchen. Es trägt die Nummer 414.

Melancholie war Marcel Proust nicht fremd. „Angesichts des traurigen Lebens, das ich führe, erscheint mir die Zeit in Cabourg wie eine Art schöner Traum“, schrieb Frankreichs vielleicht berühmtester Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Von 1907 bis 1914 verbrachte er jeden Sommer in dem normannischen Küstenstädtchen. Dabei logierte er stets im Grand Hotel. In seinem Zimmer mit Blick weit über den Ärmelkanal machte er sich auf „Die Suche nach der verlorenen Zeit“. Im zweiten Band seines wichtigsten Werkes heißt das Seebad allerdings Balbec. Inspiration holte der Schriftsteller sich bei der feinen Pariser Gesellschaft, die bekleidet mit Hüten, langen Kleidern oder im Anzug am Strand die Zeit vertrödelte.

Wenn Zeit Geld ist, ist demnach derjenige reich, der viel von diesem kostbaren Gut besitzt. „Unendlich viel Zeit“ ist deshalb der Leitspruch des 1907 erbauten Grand Hotels. Anfang des 20. Jahrhunderts galt das Haus als ultramodern. Es gab elektrisches Licht und Zentralheizung. Das gefiel auch dem asthmakranken Proust, der auf Kohlenstaub empfindlich reagierte und gewöhnlich bis zum Morgengrauen schrieb.

Viele Berühmtheiten sind durch die goldfarbenen Drehportale ein- und ausgegangen, zahlreiche Filme wurden hier gedreht. Als Bruno Coquatrix, Direktor der legendären Pariser Konzerthalle Olympia, in den 70er Jahren Bürgermeister von Cabourg wurde, brachte er die Pariser Künstlerszene gleich mit. Noch immer lockt das Grand Hotel Künstler an. Vor allem Drehbuchschreiber suchen die Ruhe in dem imposanten Gebäude mit nur 70 Zimmern.

Page Thierry trägt in schmucker Uniform seit über zwanzig Jahren die Koffer der Gäste. Unzählige Literaturbegeisterte hat er schon zu Zimmer 414 geleitet, dem Sommerdomizil von Proust. Eingerichtet im Stil der Belle Epoque entspricht es heute ansonsten dem neuesten Standard.

Wenn alljährlich im November in Cabourg der Welt größte Proustspezialisten zusammenkommen, ist dieses Zimmer auf Monate im Voraus gebucht. Thierry ist diskret. Namen nennt er nicht. Und obwohl sein Arbeitsplatz für Proustianer längst zur Pilgerstätte geworden ist, hat er noch nie ein Buch des Meisters angerührt. Genauso wenig wie Catherine. Einst war sie Zimmermädchen im Grand Hotel, jetzt putzt sie die stillen Örtchen an der Strandpromenade. Das Zimmer 414 sei übrigens gar nicht das Zimmer von Marcel Proust, verrät die 60-Jährige. Hoteldirektor Gérard Sagnes gibt zu: „Proust war sehr geräuschempfindlich und zog deshalb öfter mal im Haus um.“

Cabourg war bereits 1853 von einem Pariser Rechtsanwalt „entdeckt“ worden. Immobilienspekulanten witterten schnell ein gutes Geschäft und kauften den Küstenstrich zu einem Spottpreis. Neben einer Strandpromenade wurde schon bald ein Spielcasino gebaut, das „Herz“ von Cabourg, auf das 13 neu gebaute Alleen sternförmig zuliefen. Feudale Sommersitze wurden aus dem Boden gestampft, Tausende von Bäumen gepflanzt. Nach wenigen Jahren hatte sich das verschlafene Fischerdorf mit nicht mal 200 Seelen, in einen mondänen Badeort verwandelt.

Die neuen Bewohner von Cabourg lebten in einer Art Parallelgesellschaft mit demselben Komfort, den sie aus Paris kannten. Mit den armen Fischern kamen sie nicht in Berührung. Im ersten, aus Holz gebauten Casino spielten sie Baccara oder Bridge. Im Ballsaal konnten sie tanzen, Konzerte hören oder Theateraufführungen sehen. Bald gab es am Ort Tennisplätze und eine Pferderennbahn.

Mit Pferdewetten und anderem Glücksspiel kann der Besucher in Cabourg auch heute noch auf vergnügliche Weise Geld und Zeit verlieren. In der „Pop Art Lounge“ des Casinos trifft man sich zum Aperitif. Krawattenzwang Fehlanzeige. Wände, Decken und Sitzgelegenheiten in knalligem Rot. Lampen und Sessel in Lila und Blau. Im Spielsaal rattert der Einarmige Bandit schon für einen Einsatz von einem Cent. An den Tischen wird Roulette, Poker oder Black Jack gespielt.

Marcel Proust kam 1881 zum ersten Mal nach Cabourg. Als Zehnjähriger, begleitet von seiner Großmutter, um sein Asthma auszukurieren. Ein Jahr zuvor war das Seebad an die Bahnlinie Paris– Cherbourg angeschlossen worden.

Proust ist heute allgegenwärtig. Die vier Kilometer lange Strandpromenade ist nach ihm benannt. Im Hotel werben mit seinem Foto geschmückte Vitrinen für Badehandtücher und Comics mit dem Aufdruck „A la Recherche du Temps perdu“ (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit). Um die Ecke vom Grand Hotel verkauft ein Souvenirladen mit gleichem Namen an die sentimentalen Sommergäste überteuerten Schnickschnack.

Cabourg ist autofreundlich. Parken ist überall gratis. Der Strand dagegen bleibt Fußgängern und Radfahrern vorbehalten. Viele der verschnörkelten, mit Türmchen gekrönten Backstein- oder Fachwerkhäuser, in denen früher großbürgerliche Familien und ihre Bediensteten wohnten, wurden mittlerweile in Ferienwohnungen oder Hotels umgewandelt.

In Cabourg gibt es auch eine vergessene Zeit, nämlich die zwischen 1940 und 1944, als sich die Wehrmacht im Grand Hotel und in den Villen am Strand erholte. Einige Anwesen wurden zu Bunkern umfunktioniert. Die Soldaten konnten sich in drei Freudenhäusern amüsieren.

Heute geht es gemächlich zu. Ausländische Besucher machen sich rar. Franzosen bleiben eher unter sich und verschlafen am feinsandigen Strand, der zu den schönsten Frankreichs zählt, ganze Tage.

Mittlerweile punktet Cabourg auch kulturell. Es gibt wie im bekannteren Deauville ein eigenes Filmfestival (Festival des romantischen Films) und eine Buchmesse. Der Ort geht mit der Zeit und baut ein modernes Zentrum für Thalasso-Therapie. In der Umgebung locken ansehnliche Bauernhöfe mit regionalen Spezialitäten: Käse, Honig, Cidre oder Calvados. Auch ein Besuch im 15 Kilometer entfernten Beuvron en Auge ist zu empfehlen. Es gehört zu den schönsten Dörfern Frankreichs.

In der kühlen Jahreszeit schrumpft die Bevölkerung Cabourgs von 60 000 auf 4000. Wenn der Wind das Meer aufpeitscht und die Menschen in ihre Häuser treibt, wird es Zeit für ein gutes Buch. Gérard Sagnes, Direktor des Grand Hotels hat immerhin schon den ersten Band von „A la Recherche du Temps perdu“ geschafft. Toilettenfrau Catherine sieht keine Notwendigkeit zum Lesen des großen Schriftstellers. „Ich habe schon sein Zimmer geputzt. Das reicht!“

Le Grand Hotel Cabourg, Telefonnummer: 00 33 / 2 / 31 91 01 79, im Internet: www.accorhotels.com; Doppelzimmer (zum Beispiel im September) ab 200 Euro

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