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Timothy S. Leatherman (67), der Erfinder des gleichnamigen Werzeugs wohnt in Eugene, im US-Staat Oregon. Der Ingenieur ist Gründer und Chef der Leatherman Tool Group

© Johanna Stöckl

Leatherman: "Ich will schließlich auf das Unvorhersehbare vorbereitet sein"

Vor allem Männer kennen und schätzen ihn: den „Leatherman“. Tim Leatherman aus Oregon hat das legendäre Multitool vor 40 Jahren erfunden. Manche haben es ständig in der Tasche – und natürlich stets im Reisegepäck.

Mr. Leatherman, auf der ganzen Welt kennt man d e n Leatherman. Viele Menschen besitzen das Multifunktionswerkzeug sogar...

Ich wünschte, Sie hätten recht (lacht). Allerdings hat die Öffentlichkeit, vor allem in Europa, nicht die geringste Ahnung, wer hinter diesem Produkt steht.

Dabei sind Sie ein genialer Erfinder, ein mehrfacher Millionär oder gar Milliardär. Scheut Mr. Leatherman das Rampenlicht?

Weder scheue ich es noch suche ich es. Viele Menschen meinen ja, ich hätte die Firma Leatherman von meinem Großvater geerbt. Sie verbinden also den Namen Leatherman mit Tradition und ursprünglich sogar mit der Lederindustrie. Dabei habe ich damit nichts am Hut. Es gibt auch keinen Vorfahren, der mir etwas vererbt hätte. Das Unternehmen Leatherman wurde von mir und meinem Partner 1983 in Portland gegründet. Es ist somit gerade erst 33 Jahre jung.

Die Idee zum späteren Leatherman kam Ihnen während einer Europareise.

Meine vietnamesische Frau und ich – wir waren damals gerade erst drei Jahre verheiratet – reisten 1975 für neun Monate durch Europa. Dieser Roadtrip war als eine Art Selbstfindungsreise gedacht. Wir wollten als Paar herausfinden, wie wir unser künftiges Leben miteinander gestalten wollten. In Amsterdam erstanden wir für 300 Dollar einen ziemlich klapprigen Gebrauchtwagen.

Was war das für ein Auto?

Ein Fiat Seicento. Ich hatte damals immer ein Pfadfindermesser dabei, wenn ich unterwegs war. Es kam rund um die Uhr zum Einsatz. Zum Brotschneiden beim Frühstück, um undichte Wasserhähne in billigen Hotelzimmern zu reparieren und natürlich als Pannenhelfer beim Auto. Irgendwann hätte ich allerdings dringend eine Zange gebraucht. Streng genommen war dieser Moment, eine weitere Autopanne, der Grundstein für meine Erfindung. In Gedanken fügte ich 1975 in Europa dem bereits bestehenden Taschenmesser eine Zange hinzu.

Zurück in Oregon machen Sie sich 1976 daran einen Prototypen zu bauen.

So war’s.

Man stelle sich vor, Sie hätten damals mehr Geld für ein besseres Auto gehabt.

(lacht) Sie sehen, manchmal ist es von Vorteil, kein Geld zu haben.

Sie basteln also in Ihrer Garage an einem Prototypen. Wie haben Sie sich in dieser Zeit finanziert?

Meine Frau ging zur Arbeit und kam für unser gemeinsames Leben auf. Wir gingen beide davon aus, dass ich den Bau des Prototypen in maximal drei Monaten abschließen würde.

Dem war wohl nicht so?

Drei Jahre lang hat meine Frau unser Leben alleine finanziert. Weitere fünf Jahre vergingen, ehe wir den ersten Leatherman verkauften. Ich jobbte während dieser Zeit tagsüber auch und tüftelte abends und nachts weiter.

Das heißt: Von der Idee bis zur ersten Bestellung vergingen acht lange Jahre und Sie haben nie ans Aufgeben gedacht?

So war es. Es gab etliche Abende, an denen ich mir schwor, alles hinzuschmeißen. Am nächsten Morgen wachte ich jedoch auf und machte weiter.

Ihr Geschäftspartner war in den Anfangsjahren Studienfreund Steve Berliner. Rein theoretisch hätte der Leatherman demnach auch „Berliner“ heißen können?

Steve Berliner ist noch heute mein Partner. Er hat mich in der achtjährigen Entwicklungsphase beraten und wurde bei Firmengründung mein Partner. Wir hatten schließlich eine Liste von etwa 100 möglichen Firmennamen. Steve bestand darauf, unser Multitool „Leatherman“ zu nennen.

„Berliner“ war also nie eine Option?

(lacht) Ein Berliner ist doch eine Art Donut, oder? Steves Nachname stand jedenfalls nie ernsthaft zur Diskussion.

"Ich bin kein guter Erfinder"

Helferlein. Auch bei heißen Topfdeckeln leistet die Faltzange gute Dienste.
Helferlein. Auch bei heißen Topfdeckeln leistet die Faltzange gute Dienste.

© promo

Sind Sie ein Visionär?

Sagen wir mal so: Ich wusste genau, was das Produkt alles können muss und hatte eine klare Vorstellung über das Endergebnis, aber nicht die geringste Ahnung davon, wie die einzelnen Schritte dahin aussehen könnten. Meine Vision war ein kompaktes, klappbares Werkzeug, das mehrere Funktionen beinhaltet und in eine Hosentasche passt. Das – ich nenne es jetzt mal so – Schmetterlingsdesign gab es ja schon vor dem Leatherman.

Hat Sie das Schweizer Messer inspiriert?

Ich wollte ein Multifunktionswerkzeug bauen, das eine Zange hatte. Diese fehlte dem Schweizer Messer seinerzeit. An den Enden der Zange, in den Griffen also, wollte ich weitere Werkzeuge unterbringen. Mein Multitool war von Anfang an darauf konzipiert – anders als das Schweizer Messer – faltbar zu sein.

War Leidenschaft Ihre Triebfeder?

Sicherlich, ich habe mein Ziel hartnäckig verfolgt. Aber ich bin kein guter Erfinder.

Sagt jemand, der weltweit 80 Millionen Stück seiner Erfindung verkauft hat.

Na ja, ich war nicht imstande, meine Idee von Anfang an bis ans Ende durchzuplanen. Das heißt: Ich bin nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ vorgegangen. Nach drei Jahren war ich mit dem Prototypen zufrieden. Weitere fünf Jahre vergingen bis das Produkt marktfähig war.

Waren Sie als Kind daran interessiert, Dinge zu reparieren, herumzutüfteln?

Ich war technisch desinteressiert, aber ein fleißiger Schüler.

Waren Sie ein neugieriger, mutiger Junge? Liebten Sie als Kind die Natur?

Mein Vater war zeitlebens sehr gerne draußen. Pflicht für meinen Bruder und mich: der alljährliche Campingurlaub. Auch an den Wochenenden waren wir mit unseren Eltern ständig draußen. Ich mag Sport sehr, vor allem Basketball, war aber kein sonderlich sportliches Kind.

Später studierten Sie Maschinenbau. Warum das?

Da ich in Mathematik und Physik besser war als in Sprachen oder Literatur und mir ein Berufsberater dazu riet, entschied ich mich dafür.

Was war das für ein Gefühl, als Sie den ersten Leatherman verkauften?

Ende Mai 1983 erhielten Steve und ich die erste Order von Cabela’s. Das Versandhaus für Fischerei-, Jagd-, Outdoor- und Campingbedarf orderte 500 Stück für insgesamt 12 000 Dollar. Das Gefühl war fantastisch und ernüchternd zugleich.

Was war enttäuschend?

Um die bis dahin angefallenen Kosten zu decken, hätten wir eine Bestellung von mindestens 4000 Stück gebraucht. Allerdings erhielten wir nach Erscheinen des Katalogs bald Folgeaufträge mit beeindruckend hohen Zahlen. Unser Produkt kam beim Endkunden gut an und wir mit der Produktion kaum nach.

Warum ließ der Erfolg so lange auf sich warten?

Wir glaubten immer an das Produkt, aber es gelang uns in acht Jahren nicht, einen Lizenznehmer zu finden. Das Problem: Wir dachten, ein Taschenmesser mit diversen Zusatzfunktionen erfunden zu haben, klapperten daher die Messerindustrie ab. Diese wies uns mit den Worten „Das ist kein Messer, sondern ein Werkzeug“ zurück. Also kontaktierten wir Unternehmen in der Werkzeugindustrie. Reaktion: „Das ist kein Werkzeug, sondern ein Gadget, Schnickschnack verkauft sich nicht.“ Deshalb mussten wir es wohl oder übel selbst produzieren.

Schon einmal daran gedacht ein "Leatherwoman" ins Sortiment aufzunehmen?

Die Hälfte meiner Kunden sind Frauen. Sie verschenken den Leatherman allerdings an Männer. Für unsere Kundinnen haben wir kleinere Typen des Leatherman in ansprechenden Farben wie Grün und Pink entwickelt. Sie öffnen mit einer Schere, nicht mit einer Zange. Aber es ist und bleibt ein Leatherman (lacht).

Ein Leatherman konnte einmal einen Flugzeugabsturz verhindern

Das Tread ist die Antwort auf das Leatherman-Verbot im Handgepäck.
Das Tread ist die Antwort auf das Leatherman-Verbot im Handgepäck.

© Craig Wagner / Promo

Teilen Ihnen Kunden manchmal mit, wie hilfreich oder vielleicht sogar lebensrettend für sie der Leatherman war?

Ja, Zuschriften bekommen wir regelmäßig. Einmal erreichte uns ein Schreiben eines Fischers, der die Ankerschnur seines kleinen Bootes mithilfe eines Leatherman in letzter Sekunde durchtrennen konnte. Das verankerte Fischerboot war zum Spielball eines Wals geworden. Die spektakulärste Geschichte ist aber eine andere. Ob Sie es glauben oder nicht, ein Leatherman konnte einmal einen Flugzeugabsturz verhindern.

Schießen Sie los!

In Alaska setzt ein Buschpilot zur Landung an, aber das Fahrwerk fährt nicht aus. Das einzige Werkzeug an Bord ist ein Leatherman. Dem Kopiloten gelingt es schließlich mithilfe des Leatherman die Abdeckung der Instrumentenleiste abzuschrauben. Er sieht, dass das betreffende Kabel gerissen ist und kann über unser Tool den Stromkreis überbrücken, indem er die beiden Kabelenden mit der von der von mir damals so vermissten Zange verbindet. Das Fahrwerk fährt aus, das Flugzeug kann landen.

Apropos Flugzeug. Seit dem 11. September 2001 können Fluggäste auch einen Leatherman nicht mehr im Handgepäck mit auf Reisen nehmen. Hat die Verschärfung der Sicherheitsbestimmungen Ihren Umsatz erhöht, weil viele Kunden, deren Leatherman konfisziert wurde, einen neuen kaufen mussten?

Freilich haben kurzfristig viele zufriedene Kunden unser Produkt nachgekauft, wenn sie es in der Sicherheitskontrolle abgeben mussten. Aber langfristig ist etwas anderes passiert: Reisende nehmen den Leatherman weniger häufig mit auf Flugreisen, obwohl er gerade auf Reisen so hilfreich ist. Nimmst du ihn nicht mit, kannst du ihn im Urlaub nicht verwenden. Verwendest du ihn nicht, sehen ihn deine Freunde nicht. Und schon sinkt die Nachfrage. Weshalb wir ein neues Produkt auf den Markt gebracht haben. Das „Leatherman Tread“.

Was ist das?

Es sieht auf den ersten Blick aus wie ein simples, elegantes Metallarmband. Betrachtet man es näher, erkennt man, dass in jedem einzelnen Glied jeweils zwei Werkzeuge untergebracht sind. Schraubenzieher, Inbusschlüssel, Sim-Card-Remover, Glasbrecher et cetera. Insgesamt wurden so 25 Werkzeuge in ein Armband integriert.

Gehen Sie eigentlich gegen Billigkopien des Leatherman gerichtlich vor?

Nicht mehr, ich habe mittlerweile meine Einstellung zu Kopien, die hauptsächlich aus China kommen, geändert. Der Endkunde sieht im Geschäft sofort, was Original und Fälschung ist. The Wave, das beliebteste Leatherman-Modell, kostet im Laden an die 130 Euro und wird daher meist in einer abgeschlossenen Glasvitrine präsentiert. Kopien für 20 Euro finden sich im Wühlkorb. Auf jeden Leatherman gewähren wir 25 Jahre Garantie.

Das heißt?

Sollte Ihr Leatherman kaputtgehen, schicken Sie ihn ein. Und wir reparieren oder ersetzen ihn.

Trägt Herr Leatherman einen Leatherman bei sich, wenn er richtig schick essen geht?

Ich habe immer einen einstecken. Ich will schließlich vorbereitet sein.

Auf was?

(lacht) Auf das Unvorhersehbare.

Johanna Stöckl

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