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Manchester: Wo Victoria Beckham Schnäppchen jagt

Das nordenglische Manchester wandelt sich zur angesagten Shopping- und Designmeile. Gut: Alles ist viel billiger als in London.

„Shopping ist die neue Religion Englands“, behauptet der Barmann. Vor allem hier sei das so, in Manchester. Dabei könnte man just an seiner von elektronischen Klängen gekühlten Bar im Radisson Edwardian Hotel annehmen, der Musik käme diese Rolle zu – wenn überhaupt. Denn es befindet sich in den Mauern der Free Trade Hall, einer einstmals legendären Konzertbühne, auf der Bob Dylan auftrat und Judy Garland, Shirley Bassey und Ella Fitzgerald. Zu den Hotelgästen zählen dieser Tradition entsprechend Dionne Warwick, Kylie Minogue und George Michael. Und sogar die gebeutelten Manager der Musikindustrie buchen hier, wenn sie im Norden Englands zu tun haben. Die Stadt selbst ist Heimat von Simply Red, Oasis, New Order und The Smiths. Um nur einige zu nennen.

Andererseits: Schon Napoleon wusste, dass es sich bei den Insulanern in erster Linie um eine „Nation von Krämern“ handelt. Als Stadt, die zwar nicht über Londons Glanz, Glitter und Geld verfügt, aber immerhin Gelegenheit hatte, an Victoria Beckhams Shopping-Ansprüchen zu wachsen, hat Manchester eine adäquate Menge Einkaufsmöglichkeiten zu bieten: von internationalen Nobelmarken auf der King’s Street und den Modedesignern in der St. Ann’s Passage über die großen Niederlassungen ur-insularer Anbieter wie Marks & Spencer an der Market Street bis hin zu hochspezialisierten Adressen wie dem Affleck Palace mit alternativer Mode und Musik und dem „Manchester Craft and Design Center“ im ehemaligen viktorianischen Fischmarkt mit origineller Ware für das gepflegte Heim. Die gute Nachricht: Das Angebot weist zwar Ähnlichkeiten auf, doch das Preisniveau liegt spürbar unter dem Londons. Posh Spice dürfte das allerdings weniger berührt haben.

Ein Apartment haben die Beckhams immer noch in der Stadt, falls sie im fernen Kalifornien das Heimweh überwältigt: 301 Deansgate, im nagelneuen Beetham Tower des Architekten Ian Simpson. Unten bietet das Hilton Herberge; die oberen Etagen des Glaspalastes bestehen aus Luxuswohnungen, für die sich vor allem vermögende Spieler des Fußballclubs Manchester United interessierten. Mit 47 Stockwerken will dieser Bau das höchste Wohnhaus Europas sein.

Ihre hypermoderne Architektur verdankt die Stadt einem Schicksalsschlag: dem Attentat der IRA während der Fußball-Europameisterschaft am 15. Juni 1996, bei dem 1500 Kilogramm Sprengstoff in die Luft flogen, 200 Menschen verletzt wurden und ein Sachschaden in Höhe von 500 Millionen Pfund entstand. Anschließend lag das Herz der City buchstäblich in Trümmern. Nur ein roter Briefkasten an der Corporation Street blieb unbeschadet, ein Schild an ihm erinnert an den Anschlag. Manchester begriff die Katastrophe als Chance und baute sich ein neues, glitzerndes Zentrum, das Eingang in die Architekturzeitschriften der Welt fand.

Wo zuvor ein trister Parkplatz Blech bündelte, erheben sich nun Kaufhäuser und Konfektionäre wie Harvey Nichols, Sefridges und Next. Ian Simpson baute das Museum Urbis: eine futuristische, 2002 fertiggestellte Struktur, deren Ausstellungsfläche dem Phänomen der modernen Stadt gewidmet ist. Mittendrin steht ein wenig unvermittelt ein Riesenrad: Zeugnis des Spieltriebs einer arbeitsamen Stadt, deren Symbol die fleißige Biene ist, und für Schwindelfreie der ideale Ort, um sich einen Überblick über das neue Zentrum zu verschaffen.

Ohnehin liegt es nicht in der Natur der nach London und (aber nur knapp!) Birmingham drittgrößten Stadt Englands, sich von Schicksalsschlägen unterkriegen zu lassen. Mit der boomenden Baumwollverarbeitung im Umland und dem -handel in Manchester stieg die Provinzstadt Ende des 18. Jahrhunderts zum Zentrum der industriellen Revolution auf. Bald darauf stand Reisenden der Ersten Klasse ein überdachter Gang zum Bahnhof zur Verfügung, und Friedrich Engels untersuchte mit Missfallen die Situation der Arbeiterklasse. Innerhalb von 30 Jahren war die Einwohnerzahl von 30 000 auf 300 000 gestiegen – darunter viele Iren, die der Armut ihrer Heimat zu entkommen trachteten, ohne den Atlantik zu überqueren. Noch heute soll jeder fünfte Bewohner Manchesters irische Wurzel haben – so wie die Mitglieder der Rockband Oasis.

Als die Textilindustrie Europa den Rücken kehrte, war alles vorbei. Erst allmählich konnte Manchester an alte Glanzzeiten anknüpfen. Außer mit Musik, Medien und Dienstleistungen wird heute auch mit dem Tourismus Geld verdient: weil die Lage günstig ist als Ausgangspunkt für Trips in den romantisch-regnerischen Lake District oder nach Wales, und weil sie selbst außer Museen, Architektur und einem renommierten Fußballclub ein nahezu furchteinflößendes Nachtleben besitzt.

Der legendäre Club Hacienda der Popgruppe New Order, Schauplatz von Madonnas erstem Auftritt auf britischem Boden, Wegbereiter zahlreicher Stars der 80er und 90er Jahre und zuletzt Protagonist des Films „24 Hour Party People“ von Michael Winterbottom, stellte 1997 zwar für immer die Verstärker ab. Den Ruf als Party-Hauptstadt des Nordens hat Manchester trotzdem verteidigt.

Noch immer kommen am Wochenende abends rund 50 000 Leute aus dem Umland in die Bars und Clubs der Stadt und bieten ein urenglisches Schauspiel: Kette rauchend und eindrucksvolle Mengen Alkohols in sich hineinschüttend, demonstrieren junge Menschen, die zu jeder Jahreszeit ohne textiles Zugeständnis an das Klima ihrer Heimat durch windige Straßenschluchten von Bar zu Bar ziehen – die Frauen stets mit bloßen Schultern, die Männer mit aufgerollten Hemdsärmeln –, welche Zähigkeit es braucht, ein Weltreich zu erobern. Und nur diese Härte gegen sich selbst befähigt eine Nation, seinen Verlust mit Haltung zu verschmerzen. Manchester hat sie geholfen zu ertragen, dass der Nachbar Liverpool in diesem Jahr Europäische Kulturhauptstadt geworden ist.

430 000 Menschen leben heute in der Stadt, fast zweieinhalb Millionen in ihrem Einzugsbereich. Wer es in der geschäftigen Metropole zu Geld gebracht hat, gibt sein Apartment in der City gern zugunsten eines Heims im „goldenen Dreieck“ auf: In den grünhügeligen Dörfern Wilmslow, Alderley Edge, Prestbury und Knutsford bauten sich in viktorianischen Tagen Manchesters Textilbarone herrschaftliche Anwesen. Heute leben hier die Stars von Manchester United. David Beckham wohnte in Alderley Edge, Wayne Rooney hat sein Haus in Prestbury.

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