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Florida: Unter den Reifen glitzert das Meer

Über 44 Inseln von Key Largo bis Key West – Eine herrliche Fahrradstrecke und eine wahre Herausforderung.

Die Sonne brennt, der Wind weht – natürlich – von vorn. Links rauschen Laster vorbei und lassen fröhliches Hupen hören: Na so was, da radeln welche, bei der Hitze! „Habt ihr Klimaanlage?“ Hahaha! Egal, wir schnaufen weiter zur Brücke hinauf und werden dann mit der Talfahrt belohnt: endlich genug Luft, die Aussicht zu genießen, links und rechts tiefblaues Meer, die Pause am Strand voraus. 42 Brücken verbinden die Inseln der Florida Keys miteinander. Am ersten Tag nehmen wir es mit zehn von ihnen auf, darunter auch die höchste der Inselkette. Es ist weniger kräftezehrend als Radeln im Mittelgebirge. Allerdings: Es ist auch deutlich wärmer. Die Hälfte der Strecke legen wir auf dem Standstreifen des Highways zurück. Der Radweg von Key Largo nach Key West mit dem schönen Namen „Florida Keys Overseas Heritage Trail“, in den auch einige der alten, für den Straßenverkehr nicht mehr genutzten Brücken einbezogen werden, wird erst im Jahr 2013 vollendet sein. Mit dem Auto schafft man die Strecke von Key Largo nach Key West, dem südlichsten Stück Festland-Amerika, in zwei Stunden. Und tatsächlich bietet das schrille, verrückte und mitunter auch berückend verträumte Inselchen 140 Kilometer vor Kuba Anreiz genug, sich auf dem Weg nach Süden beeilen zu wollen. Was man im Auto jedoch verpasst, enthüllt die Radtour unter Leitung von Bubba Barron, einem schwergewichtigen Kriminalbeamten im Ruhestand. Der 62-Jährige unternahm nach seiner Laufbahn bei der Polizei eine Radtour quer durch die USA, um über drei Monate und 6400 Kilometer den Stress eines ganzen Berufslebens abzubauen. Anschließend blieb er in Florida, wo er seither Touren über die Keys organisiert. Dabei setzt er sich selbst allerdings nicht aufs Rad. Bubba fährt mit dem Auto voraus, um uns an Baustellen den Weg frei zu machen: mit großen Schildern, die Autofahrer vor den in den USA noch immer recht exotisch anmutenden Verkehrsteilnehmern auf nur zwei Rädern warnen. Außerdem transportiert er das Gepäck. Auf dem Rad dabei ist Lynn Kallafez, eine 60-jährige gelernte Krankenschwester, die auf den mittleren Keys lebt, erst kürzlich in 55 Tagen von Kalifornien bis nach Florida radelte und auch auf unserer vergleichsweise harmlosen Strecke ein Tempo vorlegt, als hätte sie am Abend einen wichtigen Termin in Mittelamerika. Nur in Key Largo sind die beiden Spuren von Floridas Highway Number One baulich getrennt. Es ist zugleich der am wenigsten attraktive Teil der Strecke: Supermärkte, Drugstores, Tankstellen und Baustellen, wohin man auch blickt. Lynns pinkfarbenes Trikot ist nur noch ein Flecken in der Ferne, als wir Key Largo hinter uns lassen. Eine schweißtriefende Stunde später erreichen wir Islamorada. Jenseits des Highway Number One erzählen hier jeder Stein und jedes Haus eine Geschichte: Auf dem Gelände des Resorts Cheeca Lodge erinnert ein alter Friedhof an die Familien Russell, Pinder und Parker, die einstmals als erste weiße Siedler den schmalen Streifen Land zwischen zwei Meeren bewohnten. Sie waren nicht die ersten Menschen, die auf den kargen Inselchen lebten: Im vergangenen Jahr wurden Knochen gefunden, deren Alter auf 1500 Jahre geschätzt wird.

Festungsartige Häuschen zeugen von der Zeit des Wiederaufbaus nach dem verheerenden Hurrikan im Jahr 1935. Eines davon wurde später das Heim des führenden Drogenbosses Floridas – bis 1994 eine Razzia im Haus 3500 Pfund Kokain zutage förderte. Die durch das Rote Kreuz erbauten Häuser sind heute begehrte Immobilien. Mit ihren schönen Pinienholzböden, den dicken Mauern aus Beton und den kleinen Fenstern sind sie im Sommer kühl, im (ohnehin warmen) Winter warm und haben zahlreichen Hurrikanen standgehalten. Die Toten des furchtbaren Tropensturms vom Labor Day des Jahres 1935 ehrt ein Denkmal neben dem Highway, dessen 300 Kacheln die Silhouette der Keys darstellen und an die 300 der insgesamt mehr als 700 Opfer erinnern, die hier in einer Krypta bestattet sind. Viele waren Veteranen des Ersten Weltkriegs, die am Bau der Eisenbahnlinie beteiligt waren, die die Keys mit dem amerikanischen Festland verbinden sollte. Sie wurde niemals fertiggestellt; stattdessen verließ man sich auf den Overseas Highway, der noch heute über 127 Meilen die Inseln miteinander verbindet. Jede Meile kennzeichnet ein „Mileage Marker“ – grüne Schilder mit weißer Schrift, deren letzter, der Mile Marker 0, die Ankunft in Key West signalisiert und das meistgestohlene Schild des Landes sein soll.

Nur ein paar Straßen weiter zeugt am Mile Marker 81 die 1947 eröffnete Bar The Green Turtle Inn davon, wie rasant sich die Keys vom verschlafenen karibischen Vorposten der USA zu einem der beliebtesten Urlaubsziele des Landes entwickelten, sobald die Straße fertig war. Hier stand 1979 der Komiker und Blues Brother John Belushi an und bisweilen auch hinter der Theke. Noch heute ist die „grüne Schildkröte“ eine Bar, in der Einheimische auch während Hurrikanen gern Zuflucht suchen, um gestützt durch harte Drinks durch das Unwetter zu kommen. So schön es war, gemächlich durch die von blühenden Bäumen beschatteten Sträßchen Islamoradas zu radeln, so ernüchternd sind nun die Fakten: Lunch gibt es im Restaurant Hungry Tarpon am Mile Marker 77. Das bedeutet weitere sechs Kilometer auf dem Highway zwischen Meer und Lastern. Immer neue Brücken stellen sich in den Weg. Doch schließlich stellen wir die Räder ab und wanken zu Tisch. Dort erwartet uns fröhlich Bubba. Immerhin, die höchste Brücke ist Geschichte. Doch mit Channel Five und Long Key Bridge warten noch zwei der längsten. Vor diesem Hintergrund ist es vermutlich unklug, die gehaltvollen, mit Thunfisch gefüllten Tacos zu wählen. Aber: Sie schmecken köstlich. Am Nachmittag beobachten Reiher und Pelikane, wie wir in Richtung Long Key radeln. Der St. Anne’s Beach am Mile Marker 74 erscheint mit seinem flachen, türkisblau leuchtenden Wasser wie eine Fata Morgana. Herrlich, die Füße ins Meer zu halten. Drei Meilen später folgt mit der Channel Number Five Bridge eine Kraftprobe: langer Anstieg, Gegenwind, kollegiale Gedanken an die Teilnehmer der Tour de France. Das Herz trommelt, der Körper glüht. Die Long Key Bridge ist immerhin deutlich flacher; außerdem liegt der Radweg auf der alten Brücke, die parallel zum Highway verläuft. Hier müssen wir lediglich Anglern ausweichen. Es ist schön, über dem Meer zu radeln, und es ist noch schöner, in der Ferne Duck Key zu sehen, unser Tagesziel am Mile Marker 61. Dort staunen die Gäste nicht schlecht über die Neuankömmlinge auf Fahrrädern.

Nach lebenserhaltender Erholung im Spa und einem erfolgreichen Appell an Lynn, das Tempo fortan ein wenig zu drosseln, beginnen wir die Etappe, zu der der Abschnitt mit dem unheilvollen Namen „Seven Mile Bridge“ gehört. Die Sonne liegt hinter dicken Wolken, die Temperaturen sind angenehm. Wir fahren über einen Radweg, der durch einen bewaldeten Streifen neben dem Highway führt, bis wir das recht urbane Marathon erreichen. Am Mile Marker 48 liegt das Turtle Hospital. Schildkröten, die sich in Angelleinen verfangen hatten, werden in dem 1986 eröffneten Krankenhaus ebenso behandelt wie von Schiffsschrauben verletzte Tiere oder solche, die Plastiktüten verschluckt haben. „Von den Tieren, die die ersten beiden Nächte überstehen, bringen wir etwa 85 Prozent ins Meer zurück“, erklärt Ryan Butts, der Verwalter. Die übrigen könnten in Freiheit nicht mehr überleben. Als wir die Helme wieder aufsetzen, beginnt der Regen: heftig, tropisch, warm. Wir fliehen in die Sunset Grill & Raw Bar und beobachten, wie die Seven Mile Bridge im Dunst versinkt. Schließlich lässt der Regen nach, die Brücke ist noch da. Es ist schon Routine: mit Schwung hinauf und dann zwischen Himmel und Meer einfach rollen lassen. Am Fuß der Brücke beginnt am Mile Marker 40 der Bahia Honda State Park. Nun wird die Insellandschaft ruhiger und ursprünglicher. Wir haben Glück und sehen anderntags auf Höhe des Mile Marker 37 tatsächlich Key deer – kleine Rehe, die nur in den Lower Keys vorkommen. Hier ist es, als würde die Landschaft noch einmal Atem holen, bevor sie sich am Mile Marker 5 in eine Stadt verwandelt mit Autohändlern, Fast-Food-Anbietern und um Parkplätze gebaute Supermärkte. „Don’t Drink and Drive – Welcome to Paradise“, grüßt ein Schild. Erst das historische Zentrum der Stadt, in der Ernest Hemingway fischte, trank und schrieb und sich Präsident Harry Truman vom Stress im Weißen Haus erholte, verströmt die eigentümliche Atmosphäre Key Wests: Touristenrummel einerseits, der stille und manchmal schräge Charme des alten Südens andererseits. Wir lassen die Räder stehen. Zu Fuß schlendern wir durch die Alleen zwischen Atlantik und Golf von Mexiko.

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