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© mauritius images

Neuseeland: Die Poesie der alten Gleise

Neuseelands Eisenbahn fährt schon lange nicht mehr durch Otago. Die Region verwaiste - bis die Radler kamen.

Stuarts Haut ist ledrig und rotbraun von der Arbeit auf den Weiden im Maniototo- Tal. Seine Hände sind groß. Seine Waden gewölbt wie kleine Spoiler. „Natürlich bin ich ein richtiger Cowboy“, raunt Stuart Duncan, Nussknackerkinn und schrankbreite Schultern. Man glaubt ihm das gern. Sein Reichtum ist Land, sehr viel Land und viele Schafe; mehr als 11 000 besitzt er. Seine Familie lebt seit der Mitte des 19. Jahrhunderts im kleinen Wedderburn, als hier im Central Otago, im Süden der Südinsel Neuseelands, die ersten Siedler landeten. Angelockt vom Ruf des Goldes, das schon in den 1840ern gefunden worden war und 1861 einen gewaltigen Goldrausch auslöste.

„Damals waren die Flüsse gelb vor Gold“, wird Sean Doyle, ein Geologe, der im Otago heute nach Goldvorkommen sucht, später während dieser Reise sagen. Einige Siedler blieben und machten den abgelegenen wild-kargen Landstrich zur Fleisch-, Wolle- und Obstkammer des Landes. Die Geschichte seiner Familie und der von Wedderburn, wo heute etwa 30 Menschen leben, hat Stuart dokumentiert und in einer roten Holzscheune ausgestellt. Auf alten Schwarz-Weiß-Fotos blickt man in ausgemergelte, gespenstergleiche Gesichter. Damals war das Leben in Otago kein Spaß. Heute ist das anders. Stuart strahlt und lacht. Die gute Laune hat einen Namen: Otago Rail Trail.

Der Radweg führt entlang der alten Central-Otago-Eisenbahnlinie, durch Schluchten, Täler, Tunnel, über Hügel, entlang von Flüssen wie dem Taieri, dem drittgrößten Strom des Landes, und vorbei an all den Kaffs, die die Zeit zu vergessen haben scheint. 152 Kilometer ist der Weg lang, führt mitten durch das mystische Herz der Südinsel, wo man faszinierende Landschaften sieht und kuriose Menschen trifft. In Otago, sagt man, sei Neuseeland noch so wie einst: ungehobelt, rau – und natürlich hart, aber herzlich.

Rund dreieinhalb Tage braucht ein normal trainierter Radler für die Strecke, ausgehend von dem Mini-Städtchen Middlemarch nach Clyde, das 1907 als letzte Station an die Bahn angeschlossen wurde. Die Strecke war bis dahin über einen Zeitraum von 16 Jahren in Hügel und Berge gesprengt und geschlagen worden, um Otago über Dunedin mit dem Rest des Landes zu verbinden. Als immer mehr Autos und Lkws gefahren wurden und Benzin und Diesel billig waren, verlor die Eisenbahn als Transport- und Reisemittel ihre Bedeutung. 1990 wurde sie stillgelegt. Heute ist nur noch die Strecke zwischen Dunedin und Middlemarch als Touristenattraktion in Betrieb. Die restlichen Gleise wurden abmontiert. Auf der Suche nach Arbeit zogen viele Menschen in die Städte. Dörfer und Farmen verwaisten. Nur die kleinen Bahnhöfe, Unterstände, Haltestationen und Scheunen blieben in der Weite des Landes zurück.

„Ohne den Rail Trail wäre diese strukturschwache Region heute nahezu menschenleer“, sagt Stuart. „Die ganze Region ist durch den Trail wieder zum Leben erwacht.“ Dann deutet er mit seinem muskulösen Arm auf das alte Farmhaus, das er für seine Gäste hergerichtet hat. Fünf komfortable Holzhütten stehen daneben am Hang – alle mit Talblick. „Von denen will ich noch zwei bauen. Das reicht. Otago soll ja kein Ort für Massentourismus werden. Unsere Ruhe wollen wir hier auch künftig genießen.“

Vor zehn Jahren wurde der Otago Rail Trail eröffnet. Verwaltet wird er von einer Stiftung und dem Departement of Conservation. Seitdem wurden Wege ausgebaut, Informationsschilder aufgestellt, Rastplätze hergerichtet, Unterkünfte, Cafés und Restaurants eröffnet. Viele der historischen Pubs, Hotels und Postämter sind wieder mit Leben gefüllt. Jedes Jahr kommen mehr und mehr Radler. Bis dato sind es aber vor allem Neuseeländer. Unter internationalen Touristen ist der Trail noch recht unbekannt.

Die Legende erzählt, dass es vor allem die Otago-Frauen waren, die ihre skeptischen Männer von der Idee des Radweges überzeugten. „Ja, das stimmt“, sagt David Mcatamney, ein Farmer aus Ranfurly, der mal einer der bekanntesten Opernsänger Neuseelands war. „Auch meine Frau Edna musste mich ganz schön überreden. Wir Farmer und Landeier kommen eben nur schwer damit klar, wenn Fremde durch unseren Garten spazieren. Wir haben die Idee belächelt. Touristen bei uns? Was sollen die denn hier? Radfahren? Lächerlich, haben wir gehöhnt. Nun läuft alles, und ich bin froh, dass unsere Frauen klüger waren als wir.“

Die Stadt erreicht man am dritten Tag der Tour, nachdem man von Wedderburn kommend hinab ins Maniototo-Tal geprescht ist, die Sonne im Nacken, das Knirschen des Schotters in den Ohren, der Duft des Grases in der Nase – allein mit dem gewaltigen Himmel.

In den Pubs und Raststätten entlang dem Trail trifft man Familien, Paare zwischen 30 und 45 und vor allem Rentner. Nur selten wird man von einem dieser erstaunlich fitten, sportfanatischen Neuseeländer überholt, der sich vorgenommen hat, die Strecke in anderthalb Tagen abzustrampeln – nur den Weg und ihren Takt im Visier und hämisch „Hallo“ rufend, wenn sie einen am Tiger Hill, der zweitsteilsten Bergfahrt der Rundreise, überholen. Einem selbst aber bläst der heiße Wind ins Gesicht. Die Schafe haben sich in den Schatten unter die knorrigen Bäume verzogen, bewegen ihre mahlenden Mäuler in Zeitlupe, und man wird das Gefühl nicht los, dass sie einen mitleidig anschauen. Die Beine sind schwer.

Das Pausenbier im Chatto Creek, einer der ältesten Kneipen Neuseelands am Fuße des Tiger Hill, ist die Rettung. Belohnt wird man schließlich mit einem weiteren Drink in der formidablen Tiger Hill Lodge von der wunderbaren Farmersfrau Gwenyth White und einer famosen Aussicht auf die orange-braunen Dunstan Mountains.

Man muss sich viel Zeit nehmen, die unscheinbaren Wunder am Wegesrand zu entdecken. Wie etwa die alte grüne Lagerstation in Wedderburn, die wie ein Monument an eine vergangene Zeit an einem ins Nichts laufenden Gleis steht. Das mag sich seltsam anhören, aber das trostlose Gebäude ist eines der Höhepunkte des Trails. Der neuseeländische Maler Grahame Sydney hat das Gebäude 1975 auf einem seiner Bilder verewigt, überwölbt von einem grauen Himmel und umweht von einer tiefen Traurigkeit.

Sydneys ikonenhafte Bilder, die als Drucke in vielen neuseeländischen Haushalten hängen, zeigen häufig die verwitterten Briefkästen, Pubs und Stromleitungen Otagos, die sozialen und ökonomischen Veränderungen durch den Wegfall der Eisenbahn dokumentierend. Sydney, so sagen die Einheimischen, habe Otago ein Gesicht, eine Identität, eine Geschichte gegeben. Auf der Sonnenveranda seines Hauses nahe des einstigen Goldgräberstädtchens Saint Bathans, bekennt der Künstler: „Ich liebte die Eisenbahn in Otago. Außerdem hatten all diese von Menschenhand geschaffenen Überbleibsel für mich etwas unglaublich Pathetisches und Poetisches, so wie sie da in dieser wunderschönen Natur vor sich hin gammelten.“ Was hatte Stuart doch gleich gesagt? „Mit dem Rail Trail haben die Menschen begonnen, sich für ihre Geschichte zu interessieren. Neuseeland ist ja jung, doch Otago war von Anfang an dabei. Die Erinnerung daran muss man bewahren. Seitdem das passiert, erblüht unsere Heimat wieder.“

In Wedderburn haben die Einheimischen das berühmte Gebäude sogar wieder an seinen ursprünglichen Platz geholt – in einer gemeinschaftlichen Kraftanstrengung. Vor ein paar Jahren – die Lagerhalle war noch ein ziemlich heruntergekommener Schuppen ohne Bedeutung – war sie an einen Farmer in der Nähe von Dunedin verkauft worden. Nun steht sie wieder in Wedderburn und ist zu einem Symbol für eine wundersame Wiederauferstehung geworden. Von jedem Radler oder Wanderer wird die Halle passiert, mit ehrfürchtiger Andacht bestaunt und vielfach fotografiert – so als sei sie der Kölner Dom oder das Kolosseum in Rom. Schönheit kann viele Gesichter haben.

Ingo Petz

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