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Das Buch von Staden veröffentlichte Theodor de Bry 1592 mit neuen Zeichnungen nach den alten Vorlagen.

© mauritius images

Söldner Hans Staden: Bei den nackten Menschenfressern

Ein Söldner aus Hessen gerät nach Brasilien – und schreibt 1557 ein Buch, das zum Bestseller wird. Den Lesern wird geboten: Ein Augenzeugenbericht, jede Menge exotischer Bilder.

Von Andreas Austilat

Er hatte viel gesehen. Mehr als jeder andere in seiner hessischen Heimat. Jetzt war Hans Staden pleite. Aber er hatte etwas zu verkaufen, eine Geschichte, so unfassbar, dass es ein Problem sein könnte, den Lesern glaubhaft zu machen: alles wahr, alles selbst erlebt. Dass es ein Knaller werden würde, ahnten die Beteiligten – neben Staden noch der Drucker und ein Gelehrter, der wohl den Kontakt herstellte. Und so erschien im März 1557 in Marburg das erste Buch über Brasilien, ein Land, von dessen Existenz man in Europa erst seit 50 Jahren eine vage Ahnung hatte.

Selbst der verkürzte Titel war für heutige Begriffe ein wenig sperrig: „Die wahrhaftige Historia und Beschreibung eines Landes der wilden, nackten, grimmigen Menschenfresser“. Doch mehr Aufreger in einer Zeile konnte man damals nicht bringen. Heute auch nicht, noch immer tobt eine gelehrte Auseinandersetzung darüber, was von Stadens Buch zu halten ist.

Vielleicht ging der Titel auf Andreas Kolbe zurück, den Drucker dieses Werks. Sein Gewerbe war knapp 100 Jahre alt, seit Johannes Gutenberg in Mainz die Bibel gedruckt und damit das Zeitalter des Buchs eröffnet hatte. Religiöse Traktate blieben erst einmal das wichtigste Thema der Frankfurter Buchmesse, die auch damals schon abgehalten wurde. Ein wenig mehr Abenteuer versprach ein gewisser Christoph Kolumbus. Er schrieb nur nicht gut genug und stieß auf mäßiges Interesse. Ein anderer, Amerigo Vespucci, segelte hinter ihm her und brachte 1503 „Mundus Novus“ heraus. Binnen drei Jahren erschienen 19 Ausgaben dieser „Neuen Welt“, auch auf Deutsch.

Bei Amerigo Vespucci ging es zur Sache. Von Stürmen ist dort die Rede, fremdem Getier, Kannibalismus, von schwellenden Geschlechtsteilen, wolllüstigen Frauen und wahllosem Sex. „Mundus Novus“ wurde einer der größten Bestseller seiner Zeit, und der neue Kontinent bekam auch nicht den Namen Kolumbien, sondern Amerika, verliehen von einem deutschen Drucker – was eindrucksvoll belegt, welche Macht das junge Handwerk schon hatte. Noch war der Markt begrenzt, kaum mehr als fünf Prozent der Deutschen konnten zu Beginn des 16. Jahrhunderts lesen. Aber er wuchs rapide. Bis zum Ende des Jahrhunderts erschienen allein im deutschen Sprachraum bereits 150 000 Titel.

Andreas Kolbe war seit 1546 als Buchdrucker in Marburg selbstständig. Seine Geschäfte liefen nicht besonders. Er brauchte dringend einen Hit in seinem Programm. Natürlich kannte er die größten Bestseller seiner Zeit. Sebastian Münsters „Cosmographia“, eine illustrierte Beschreibung der Welt, war das erfolgreichste Sachbuch des 16. Jahrhunderts. Oder Sebastian Brants „Narrenschiff“, die satirische Abrechnung mit dem Zeitgeist. Ein Dauerbrenner war Johannes Schiltbergers „Von fremden Landen“, der mittlerweile schon 100 Jahre alte Bericht eines Bayern, der mit den Kreuzrittern in den Orient zog und in Gefangenschaft geriet. Das waren Stoffe, die beim deutschen Publikum ankamen. Und die Drucker hierzulande waren gleichauf mit den Franzosen Marktführer im Europa des 16. Jahrhunderts.

Mitverantwortlich für Stadens Menschenfresserbuch zeichnete Johannes Eichmann, alias Dr. Dryander, Professor für Mathematik und führender Mediziner seiner Zeit. Dryander stand für wissenschaftliche Reputation, verfasste das Vorwort und begründete, warum die Geschichte „wahrhaftig“ sei. Weil es nämlich Dinge zwischen Himmel und Erde gebe, von denen der einfache Zeitgenosse keine Ahnung habe, der Wissenschaftler aber schon. Außerdem kenne er den Vater Hans Stadens und verbürge sich für den guten Ruf des Jungen.

Doch wie geriet ein Junge aus Homberg an der Efze, wo er um 1525 zur Welt gekommen war, unter die brasilianischen Menschenfresser?

Höchstwahrscheinlich kämpfte Hans Staden als Landsknecht, wie man einen Söldner seinerzeit nannte, im schmalkaldischen Krieg. Es war einer der ersten Glaubenskämpfe zwischen Protestanten und Katholiken und Staden focht für seinen evangelischen Landesherren, Hessens Landgraf Philipp. Die protestantische Seite unterlag dem katholischen Kaiser, konnte ihre Truppen nicht mehr bezahlen. Überdies wurde Hessen von Katholiken besetzt, unter ihnen auch portugiesische Söldner.

Staden war „Büchsenschütze“, Kanonier also, und damit ein gesuchter Experte. Vor allem Deutsche hatten da einen europaweiten Ruf. Der Historiker Jürgen Pohle beziffert den Anteil der Deutschen unter den Bombardeiros, wie die portugiesischen Artilleristen genannt wurden, auf über 30 Prozent. Und sie verdienten gut, fast doppelt so viel wie einfache Seesoldaten.

Staden verließ seine Heimat und fuhr über Bremen und das holländische Kampen an Bord eines Salzfrachters Richtung iberische Halbinsel. Ende Mai 1547 erreichte er Lissabon. In Portugals Hauptstadt gab es eine deutsche Kolonie von beträchtlicher Größe, Staden fand Unterkunft bei einem Gastwirt namens Leuhr, der ihn auf ein portugiesisches Schiff mit Kurs Brasilien vermittelte.

Bis hierhin ist schon erstaunlich, wie gut das Netzwerk der Söldner und Seeleute funktionierte, in einer Zeit, von der man zu Recht annimmt, dass die meisten Menschen ihre Heimat nie verließen. Wichtigste Anlaufstelle war, was es heute kaum noch gibt: die Hafenkneipe. Staden ist nicht der einzige Deutsche an Bord, er nennt zwei weitere, einen Hans aus Bruchhausen am Westerwald und einen Heinrich Prant aus Bremen.

Staden war an der Kaperung maurischer Schiffe beteiligt, sah fliegende Fische an Deck klatschen, das Elmsfeuer leuchten und erreichte Brasilien. In Igaracu hinter dem heutigen São Paulo erwischten ihn fast die Wilden, wie er sie nannte, als sein Boot von beiden Seiten angegriffen wurde. Vor Paraiba duellierten sie sich mit einem französischen Segler, der ihnen den Großmast zerschoss. Und nach anderthalb Jahren war Staden zurück in Lissabon. Das alles hätte schon für ein Buch gereicht. Staden füllte damit später gerade mal seine ersten fünf von 53 Kapiteln.

Er ging nach Spanien, wo im April 1550 Schiffe zum Rio de la Plata aufbrachen, dem Vizekönigreich, das vom heutigen Argentinien bis Bolivien reichte. Sein Ziel war das Gold Perus. Die sagenhaften Schätze dürften Thema in jeder Hafenbar gewesen sein. Diesmal hatte er Pech, sein Schiff sank vor Südamerika. Als Schiffbrüchiger kam er über mancherlei Umwege wieder zu den Portugiesen in Brasilien. Und hier, auf seiner zweiten Reise, erlebte er sein eigentliches Abenteuer.

Staden wurde als Kommandant einer kleinen Artilleriestellung bei São Vicente angeheuert, unweit des heutigen São Paulo. Er verpflichtete sich zunächst nur für vier Monate.

Auf einem Jagdausflug geschah es: „Als ich nun so durch den Wald ging, erhob sich auf beiden Seiten des Weges großes Geschrei, wie es bei den Wilden üblich ist.“ Männer umringten ihn, die Haare in der Mitte des Kopfes geschoren. Sie trugen Pflöcke in der Unterlippe und in den Wangen, um den Hals hingen weiße Muschelscheiben, die nackten Leiber waren bemalt, ein Arm rot und einer schwarz, und mit Federn beklebt. Sie schlugen und stachen ihn, warfen ihn zu Boden, rissen ihm die Kleider vom Leib. Nackt und blutend wurde Hans Staden in ein Dorf der Tupinamba geführt.

Was sie mit ihm vorhatten, war schnell klar: ihn aufessen. Warum sie es nicht taten? Obwohl Staden angeblich oft mitansah, wie sie Gefangenen den Schädel einschlugen, dass „das Hirn heraussprang“, sie zerteilten und brieten? Staden führte es auf seinen Gottesglauben zurück. Vielleicht waren sie aber auch nicht ganz so wilde Menschenfresser. Die Tupinamba waren mit den Franzosen verbündet, die versuchten, in Portugiesisch-Brasilien Fuß zu fassen. Staden gab sich hartnäckig als Franzose oder wenigstens deren Freund aus.

Neun Monate verbrachte er unter den Tupinamba, lernte ihre Sprache. Sein Buch enthält 150 ihrer Ausdrücke. Er begleitete sie auf ihren Kriegszügen, nicht ausgeschlossen, dass sie ihm eine der Ihren zur Frau gaben, wie es gegenüber Gefangenen üblich gewesen sein soll. Staden schwieg sich später über diesen Punkt aus, wohl, um nicht die Reputation als Christ zu verlieren. Am Ende waren es tatsächlich Franzosen, die ihn für „Messer, Äxte, Spiegel, Kämme im Wert von fünf Dukaten“ freikauften. Staden reiste zurück, über Le Havre, London, Antwerpen nach Hessen.

Dort ließ er sich in Wolfhagen nieder als Salpetersieder und Pulvermacher. Bereits 1556, nicht einmal ein Jahr nach seiner Rückkehr, hatte er das Manuskript seines Buches fertig.

Es ist seitdem viel darüber gestritten worden, welchen Anteil er an diesem tatsächlich hatte und was ihn antrieb, es zu schreiben. War ein Landsknecht mit mutmaßlich geringer Bildung dazu überhaupt imstande? Hatte ihm Dryander die Hand geführt? Und war Staden wirklich Augenzeuge dessen, was er da niederschrieb?

Für Staden als Autor spricht, dass die gedrechselte Diktion Dryanders im Vorwort erheblich von seiner einfachen Prosa abweicht. Trotzdem äußerte die Münchner Historikerin Annerose Menninger den Verdacht, er könne abgeschrieben haben, etwa vom „Mundus Novus“ des Amerigo Vespucci. Doch Staden ist weitaus detaillierter. Und die überprüfbaren Fakten – seinerzeit waren es eine Menge mehr, denn Staden nennt Daten, Namen und Ereignisse – nehmen die zahlreichen Verteidiger Stadens als Beleg für die Echtheit seiner Erlebnisse.

Unter Ethnologen wurde Stadens Bericht deshalb lange als originäre Quelle für die Geschichte Brasiliens gehandelt. Manche tun das immer noch, wenngleich Zweifel angebracht sind, ob er nicht zumindest gelegentlich übertrieben hat, um seinem Buch bessere Marktchancen zu eröffnen. Insbesondere seine drastische Schilderung des Kannibalismus geriet in die Kritik. Er habe damit dem eurozentrischen Weltbild Vorschub geleistet – für alle Zeiten war der Indianer nun ein unzivilisierter Wilder. Doch der Kannibalismus der brasilianischen Ureinwohner scheint belegt. Zwei Franzosen, André Thevet und Jean de Léry, berichteten kurz nach Staden ebenfalls über die Menschenfresserei unter den Tupinamba. Léry lobte dabei gleichzeitig deren Gastfreundschaft und Uneigennützigkeit. Eine Erkenntnis, die Michel de Montaigne dann in einem Essay verarbeitete, der den europäischen Überlegenheitsdünkel kritisch beurteilte.

Natürlich haben Staden, Kolbe und Dryander das Publikum im Blick gehabt, sich überlegt, was ankommt. Für viel Geld, wie sie erwähnen, wurden über 50 Holzschnitte angefertigt. Vielleicht sogar nach Stadens Vorlagen. Das machte das Buch auch für unsichere Leser attraktiv. Das Thema allein garantierte noch keinen Erfolg. Auch andere Landsknechte hatten ihre Übersee-Erlebnisse zu Papier gebracht, doch entweder wurde kein Buch daraus, oder es erschien erst nach Stadens Erfolg.

Noch im gleichen Jahr, 1557, brachte Kolbe in Marburg eine zweite Auflage heraus – die Gesamtauflage dürfte nach Schätzungen des Berliner Historikers Wolfgang Neuber damit bereits bei 3000 gelegen haben. Immerhin mussten die Leser kein Latein beherrschen, die „Wahrhafte Historia“ erschien auf Deutsch, anders als über die Hälfte der damaligen Titel.

Pech für Hans Staden war, dass es noch kein Urheberrecht gab: Ebenfalls 1557 erschienen schon die ersten beiden unautorisierten Kopien, in Ermangelung der echten Bilder mit einem reichlich unpassenden Elefanten auf dem Titelbild. Weitere Ausgaben sollten folgen. Vor allem in Brasilien selbst wurde das Buch im 19. Jahrhundert neu entdeckt, erscheint dort bis heute auch als Comic und als Kinderbuch, ist so etwas wie ein Teil des brasilianischen Literaturkanons geworden. Zwei Filme wurden 1971 und 1999 nach Stadens Buch gedreht, der erste hatte den schönen Titel „Mein Franzose war sehr lecker“.

Bei allem Erfolg, Staden half das Buch nicht aus seiner finanziellen Misere. Wobei damals ohnehin hauptsächlich der Drucker auf einen anständigen Erlös hoffen durfte. Unklar ist, wie weit er den Autor beteiligte. Gut möglich, dass Staden eher darauf spekulierte, sich einen Namen zu machen und eine Anstellung am Hof des Grafen zu erlangen. Doch 1558 wurde ihm die Pfändung wegen einer unbeglichenen Rechnung angedroht. Über seinen weiteren Verbleib ist wenig bekannt. Hinweise sprechen dafür, dass er heiratete, zwei Töchter sowie einen Sohn bekam und 1576 in Wolfhagen an der Pest verstarb. Ein Buch sollte er nie wieder schreiben. Aber sein einziges erlebte in den nächsten 450 Jahren 80 Ausgaben in acht Sprachen. Nicht schlecht für einen Kanonier aus der hessischen Provinz.

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