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Gesundheit: Der Arzt kennt keinen Schmerz

Nach Operationen leiden viele Patienten unnötig. Aber in Kliniken wird dies erschreckend oft ignoriert

Noch immer müssen Kranke Schmerzen erleiden, die sich wirksam lindern ließen. Das ist das Ergebnis von Studien, die beim 34. Deutschen Ärztekongress in Berlin präsentiert wurden. Die Schmerztherapie wurde lange sträflich vernachlässigt, konstatierte Winfried Hardinghaus, Präsident der Deutschen Gesellschaft für interdisziplinäre Klinische Medizin. Dass 60 bis 70 Prozent aller Klinikpatienten Schmerzen haben, müsste nicht sein, sagte Hardinghaus, der eine Vortragsreihe über Interdisziplinäre Schmerztherapie leitete.

Die Lage bessert sich nur langsam, wie Christoph Maier von der Uni Bochum feststellte. Zwar werden Chirurgen immer wieder darüber aufgeklärt, wie sie starken Schmerzen bei Operierten vorbeugen können, aber gebracht hat das kaum etwas: Vor zehn Jahren litten 82 Prozent ihrer Patienten sehr unter Schmerzen, heute sind es noch 77 Prozent.

In den nicht operativen Klinikabteilungen und in den Praxen sieht es nicht anders aus. Das zeigt die laut Maier erste umfangreiche Studie Deutschlands über die Realität der Schmerztherapie. Aus deren gerade abgeschlossenem ersten Teil trug er einige Ergebnisse vor: Beim Projekt „Schmerzfreies Krankenhaus“ wurden in bisher fünf Kliniken verschiedener Größe die Beteiligten befragt. 877 Patienten berichteten über ihre Schmerzen und andere Beschwerden und – ebenso wie 610 Pflegekräfte, 130 Stationsärzte und 94 Anästhesisten – über die Wirksamkeit der Schmerzbehandlung. Ihr gaben die Ärzte die besten Noten, die Patienten die schlechtesten; die Urteile der Pflegekräfte lagen dazwischen.

„Das Schlimmste waren die Nächte“, sagten Operierte. Ob sie nach einem bestimmten Eingriff starke oder geringe Schmerzen hatten, hing nur von der Klinik ab, in der sie lagen. Ob es dort wissenschaftliche Behandlungsleitlinien gab oder nicht, war egal: Sie wurden eh’ nicht befolgt, sagte Maier. Die Ärzte – ausgenommen die Narkoseärzte – wissen oft nichts von den Schmerzen ihrer Patienten; die Pflegenden schon eher, aber sie werden von den Ärzten kaum gefragt.

Unnötige Schmerzen quälten auch viele Patienten der nichtchirurgischen Stationen, zum Beispiel Herz-Kreislauf-, Magen-Darm- oder Zuckerkranke. Aber 90 Prozent dieser Geplagten bekamen kein Schmerzmittel, etwa in Diabetes-Abteilungen oder Schwerpunktpraxen. Die Ärzte sagen: „Damit müssen Sie leben“ oder sie wussten nichts von den Schmerzen. Wenn diese nicht direkt mit der Krankheit zusammenhingen, sagten die Patienten auch nichts. „Das ist doch nicht deren Gebiet“, meinte ein Diabetiker und ertrug in der Klinik stumm seine Migräne.

Diese Versorgungsstudie zeigt, dass die Patienten durchaus keine überzogene Anspruchshaltung haben. Sie erwarten keine völlige Schmerzfreiheit, aber sie bewerten die ganze Klinik negativ, wenn ihre Schmerzen nicht ausreichend behandelt werden.

Was die Erhebung außerdem ergab: Je stärker die Schmerzen, desto mehr leiden die Kranken auch an Ängsten und Depressionen, Schlafstörungen und Erschöpfung. Luftnot hat jeder vierte Herz-Kreislauf-Patient, ermittelte Maier, aber auch sie wird vernachlässigt, selbst von Lungenspezialisten. Dabei ist es eigentlich Lehrbuchwissen, dass niedrig dosiertes Morphin gegen anders nicht behandelbare Atemnot hochwirksam ist – obwohl das Mittel in hoher Dosis die Atmung unterdrückt. Fazit des Schmerzspezialisten: Fehlerhafte Anwendung bekannter Regeln, Inkompetenz, Kommunikations- und Organisationsmängel sind die Ursachen vermeidbarer Schmerzen.

Auch akuter Schmerz kann die Betroffenen fürs Leben beeinträchtigen. Wird er unzureichend behandelt, kann er leicht chronisch werden. Wie sich das „Schmerzgedächtnis“ bildet, erläuterte Walter Zieglgänsberger, der im Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie darüber forscht. Ständige Schmerzsignale verändern das Nervensystem. Die Balance zwischen Schmerzmeldung und Schmerzhemmung wird gestört. Fällt die „Bremse“ aus, reagiert das Gehirn überempfindlich schon auf den schwächsten Reiz. Dieser Dauerschmerz kann sogar schlimmer sein als der – selbst durch Unfall oder Folter ausgelöste – Ursprungsschmerz, sagte der Schmerzforscher.

Mit Hilfe neuer Verfahren kann man nun direkt beobachten, was dabei mit den Nervenzellen und ihren Verbindungen passiert. Anhand der Veränderungen lassen sich sogar solche Schmerzen objektivieren, die keine organischen, sondern psychische Ursachen haben.

Teilweise scheint dies bei der Fibromyalgie der Fall zu sein, jenem allgemeinen Muskelschmerz („Mir tut alles weh“), der drei Prozent aller Frauen quält. Viele Ärzte haben das Leiden bisher nicht ernst genommen, hieß es in einer Vortragsreihe dieses Kongresses speziell zur Fibromyalgie. Die Spur der Schmerzen im Gehirn lässt sich zwar kaum löschen, aber überspielen, sagte Zieglgänsberger. Unter dem Schutz schmerzdämpfender Mittel, die den Patienten die Angst vor dem Schmerz und womöglich vor jeder Bewegung nehmen, können sie umlernen und den Teufelskreis aus Schmerz, Angst, Depression, Schonung und sozialem Rückzug durchbrechen.

Nicht nur mit individuell ausgewählten Medikamenten, sondern vor allem mit Sporttherapie, Entspannungsverfahren und viel Patientenschulung werden chronisch Schmerzkranke in der Schmerzambulanz der Universitätsklinik Erlangen behandelt, wie ihr Leiter Reinhard Sittl berichtete. Dort und auch in bayrischen Tageskliniken arbeiten Ärzte und Therapeuten vieler verschiedener Disziplinen mit gutem Erfolg zusammen. Die Patienten haben dabei den wichtigsten Part. Auch wenn sie nicht völlig schmerzfrei werden, lernen sie, sich von dem verbleibenden Schmerz nicht beherrschen zu lassen, sondern ins Leben zurückzukehren.

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