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Gesundheit: Elektronische Puzzelei: Hilfe beim Lösen des Stasi-Puzzles

Die Schreibtische sind übersät mit Papierschnipseln. Tief über sie gebeugt versuchen rund 30 Angestellte, Fitzel zu Seiten zusammenzusetzen.

Die Schreibtische sind übersät mit Papierschnipseln. Tief über sie gebeugt versuchen rund 30 Angestellte, Fitzel zu Seiten zusammenzusetzen. Was andere als Zeitvertreib machen, ist für sie tägliche Arbeit: Puzzeln. In der Außenstelle des Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Stasi im fränkischen Zirndorf, früher "Gauck-Behörde" genannt, werden Akten des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR wiederhergestellt. Sisyphus lässt grüßen: Die sichergestellten Papierfetzen füllen mehr als 15 000 Säcke. Bei gleich bleibendem Arbeitstempo wären die Zirndorfer mit ihnen noch mehr als 300 Jahre beschäftigt. Doch Computer könnten die Aufgabe ungleich schneller erledigen.

Das jedenfalls behaupten die Firmen Siemens und SER und das Berliner Fraunhofer Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik, die nach Besuchen in Zirndorf Konzepte für eine elektronische Puzzelei ausgetüftelt haben. In den letzten Tagen der DDR versuchte die Stasi, so viel Unterlagen wie möglich zu vernichten. Die elektrischen Aktenhäcksler waren bald überlastet und gingen kaputt. Was Mielkes Mannen nicht verbrennen konnten und für brisant hielten, zerfetzten sie daraufhin von Hand.

Unter den bereits rekonstruierten Blättern fanden sich etwa die IM-Berichte von Sascha Anderson über Jürgen Fuchs und Wolf Biermann und Material über das Untertauchen der RAF-Terroristin Silke Maier-Witt in der DDR. In den Schnitzeln könnte noch mehr Spektakuläres schlummern, zum Beispiel Akten über die Vergangenheit des Ministerpräsidenten von Brandenburg Manfred Stolpe. Oder über das Finanzgebaren westlicher CDU-Politiker, ergänzt Rainer Raillard, der Leiter der Zirndorfer Gruppe.

DIN-A-5 in 98 Fitzelchen

Manche Blätter der Akten sind nur ein- oder zweimal durchgerissen, viele bestehen indes aus weit mehr Teilen. Den Rekord hält eine DIN-A-5-Seite, die ein eifriger Stasi-Jünger akribisch in 98 Fitzelchen zerfledert hat. "Im Durchschnitt klebt ein Mitarbeiter zehn Seiten pro Tag zusammen", resumiert Diplom-Archivar Raillard.

Ein Computer schaffe zehn Seiten in Sekundenschnelle, sind sich Siemens, SER und das Berliner Fraunhofer Institut einig. SER hat bereits eine Demo-Version der Software auf eigene Kosten erstellt: Auf dem Laptop sind die gescannten Schnipsel von 800 Schreibmaschinenseiten gespeichert. In wenigen Sekunden stückelt der Rechner die ersten 36 Blätter zusammen. Allerdings sind die Seiten anders als bei den Stasi-Akten fein säuberlich zerrissen. Jede setzt sich aus genau acht mehr oder weniger viereckigen Teilen zusammen.

Bekäme seine Firma den Auftrag, würde das Programm selbstverständlich ausgebaut und dann auch bei anderen Mustern funktionieren, beteuert Werner Vögeli von SER. Während sich Siemens und das Fraunhofer Institut wie menschliche Puzzler an die geometrische Form der Fitzel halten wollen, orientiert sich die SER-Software an der dreidimensionalen Struktur der Risskanten. Wenn man Papier zerreißt, sieht die Kante immer etwas anders aus, je nachdem wie stark und in welchem Winkel man zieht und wie die Fasern im Papier ausgerichtet sind. "Das ist mindestens so eindeutig wie ein Fingerabdruck", behauptet Vögeli. "Für 15 Millionen Mark rekonstruieren wir binnen fünf Jahren mindestens 60 Prozent der zerrissenen Akten, erfassen sie elektronisch und ordnen sie", präsentiert der Schweizer das Angebot.

Ob es realisiert wird, scheint angesichts leerer öffentlicher Kassen fraglich. Für sein Unternehmen habe sich das Stasi-Projekt schon jetzt "unvorstellbar gelohnt", meint Vögeli. Herzstück des Programms ist ein neuronales Netz, das die Funktionsweise des Gehirns auf stark vereinfachte Weise im Computer nachbildet. An Programmen, die so menschliches Denken simulieren, wird seit Jahrzehnten geforscht. Das neuronale Netz von SER muss nicht nur puzzeln, sondern auch Sprachmuster erfassen und den Inhalt von Dokumenten einordnen.

Vögeli führt die Software namens Brainware am Beispiel Literatur vor. Auf seinem Laptop sind 160 Bücher gespeichert; wir wählen elf davon aus, von Bibel und Koran über Aristoteles bis Goethe. Von diesen liest das Programm jeweils 20 Seiten. Nun bekommt Brainware von den anderen Seiten eine nach der anderen vorgelegt und muss entscheiden, zu welchem Werk sie am besten passt. Die überwiegende Anzahl der Seiten ordnet die Elektronik in Sekundenbruchteilen korrekt zu, bei manchen mag sie sich nicht mit ausreichender Sicherheit festlegen. Auch hier tippt sie aber fast immer auf die richtige Quelle.

Vögeli schwärmt, Brainware könne die relevanten Informationen aus Datenmengen wie etwa dem Internet ziehen. Dazu müsse man keine Suchbegriffe eingeben. Das Programm finde alles, was einem Beispieldokument inhaltlich ähnlich sei. Eine Demo-Version steht unter www.ser.de im Netz.

Wolfgang Blum

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