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Ruinierter Naturlyrik. Lutz Seiler

© IMAGO/Eberhard Thonfeld

Hypnotisierte Moderne: Lutz Seiler erhält den Georg-Büchner-Preis

Auf den Abraumhalden des Ostens: Der Dichter und Erzähler Lutz Seiler erhält die renommierteste literarische Auszeichnung des Landes

Von Gregor Dotzauer

Welche Stille im Verknüpfen entlegener Wörter. Welche Ruhe in der Zusammenschau des scheinbar Disparaten. Und welche Weite gerade da, wo die topographisch mehr als überschaubaren Räume der Kindheit aus einigen wenigen Erinnerungsflecken von Neuem erstehen. Als Dichter, der er seinem ganzen Wesen nach auch als Erzähler geblieben ist, nimmt Lutz Seiler, 1963 im thüringischen Gera geboren, bis heute auf ein imaginäres „Wörterbuch des diffusen Daseins“ Bezug, in dem er einst Begriffe wie Abwesenheit, Müdigkeit und Schwere sammelte: „Wahrnehmungszustände der Kindheit, die später wie affine Medien wirken, in denen man die Welt am unmittelbarsten zu spüren vermeint.“

Als spät in ihm die Liebe zur Literatur erwachte, dämmerte die DDR, deren Trägheit ihm in die Knochen gefahren war, schon ihren letzten Atemzügen entgegen. Erst mit 21 Jahren, während seiner Zeit bei der NVA, begann er zu lesen. Und: Er begann zu schreiben: „Warum gerade das, ist mir bis heute unerklärlich. Vor meinem Grundwehrdienst hatte ich drei Jahre im Bauwesen gelernt und dann noch einmal drei Jahre als Maurer und Zimmermann auf Baustellen gearbeitet. Nichts deutete auch nur ansatzweise auf Gedichte hin. Literatur interessierte mich nicht.“

Gerüche und Geräusche

Die Welt von gestern, die Lutz Seiler mit allen Farben, Gerüchen und Geräuschen immer wieder aufsucht, ist kein verlorenes Paradies. In der halluzinatorischen Überschärfe, die er der dunklen Romantik der Abraumhalden rund um seine Kindheitsorte Culmitzsch, Korbußen und Gera-Langenberg abgewinnt, erscheint sie sogar als zutiefst krisenhaft. Nichtsdestoweniger ist sie der Ort, von dem her sich ein Blick auf die noch viel krisenhaftere Gegenwart rechtfertigen lässt.

Die ruinierte Naturlyrik, in der sich Seiler früh übte, indem er etwa die Pechblende würdigte, das für sowjetische Atombomben abgebaute Urangestein, das seinem zweiten Band „pech & blende“ (2000) den Titel gab, erlaubt ihm, wie in seinem jüngsten Gedichtband „schrift für blinde riesen“ (2021) bis heute die Inszenierung gefährdeter Idyllen: „ich steh & spür / die fein-verwurzelung der augen hier / am rostboden der lichtung // der walden-wald ist abgerauscht / wie epiliergeräusch auf trockner haut - / etwas, das wir einmal waren, wispern / krumen, klagen / oben in der takelage / weißt du noch?“

Bei allem Widerstand gegen die besinnungslose Beschleunigung einer Postmoderne, die er „mit ihren Fixierungen auf Leichtigkeit, Geschwindigkeit, Flimmern und Fliegen“ zu Ostzeiten durchaus verführerisch fand, ist er eben kein Antimoderner, der das Heil in der Rückkehr zur Scholle sieht. Sein Band „im felderlatein“, der zeitgenössische Landschaften in Sprache und Sprache in Landschaft verwandelt, träumt eher von einer stillgestellten „hypnotisierten moderne“, wie eines der Gedichte heißt. Von der kurrenten climate poetry ist dies so weit entfernt wie von jedem schönheitstrunkenen nature writing. Die Dinge zeigen sich bei ihm in den gefährdeten Konstellationen, denen sie unterworfen sind: „am abend verrosten die schafe / über der brache, vögel / wie dahingeschneit & nachgedunkelt … // nur unter dem schutt / sind die höfe noch warm.“

Magische Heimatdichtung

Von daher kann seine spezifische Form der magischen Heimatdichtung auch unproblematisch an Oskar Loerke, Wilhelm Lehmann, Ernst Meister oder Peter Huchel anknüpfen, dessen Erbe er als Hausherr der Wilhelmshorster Gedenkstätte pflegt. Über sie alle hat er liebevoll geschrieben, sich aber auch bewundernd über die so ganz andere, hochgradig nüchterne Erinnerungskunst von Jürgen Becker geäußert.

Der Romancier Lutz Seiler, der 2014 mit dem Hiddensee-Roman „Kruso“ den Deutschen Buchpreis gewann und mit „Stern 111“ 2020 den Leipziger Buchpreis, ist demgegenüber eine noch spätere Geburt. Die Bücher verarbeiten auf je eigene Weise DDR-Geschichte und Wendezeit. Die Stärken des Prosautors Seilers zeigten sich schon in der Sammlung von Gelegenheitsarbeiten, die 2004 unter dem Titel „Sonntags dachte ich an Gott“ erschienen, treten auf dieser Kurzstrecke aber entschieden deutlicher zutage als auf der epischen Langstrecke, die die ganze Apparatur des Erzählens in Gang setzen muss. Noch seine Reiseerzählung „Turksib“, für die er 2007 Jahren in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt und zu den besten Stücken seines Bandes „Die Zeitwaage“ gehört, glänzt durch ihre Ökonomie.

In seiner kurzen und essayistischen Prosa versteht sich Seiler auf leuchtende Klarheit und Dichte, Rhythmus und Atem sowie die Überführung jedes poetischen Moments in die poetologische Reflexion. 2005 schrieb er mit „Die Anrufung“ sogar ein kleines Meisterstück. Seiler erzählt darin von seiner mündliche Abschlussprüfung im Fach Ästhetik. Mitten im Examen tritt der Professor auf den Balkon hinaus und lässt den Studenten alleine. Der hört sich, erst irritiert, dann seltsam geborgen, weiterreden. Seine Stimme löst sich vom Inhalt des Gesagten, sie kleidet den Raum aus: ein Rufen nach innen mit Widerhall im Draußen.

Der zweite Teil verlängert diese „Erfahrung von Schönheit“ bis weit zurück in die Kindheit. Seiler erinnert sich, wie er sich als Fünfjähriger einbildete,  die Zwillingsschwestern vom Hof am anderen Ende des Dorfes, herbeirufen zu können. Das „An-dreeeee-jaaaaaaa“, mit dem er die eine rief, ergibt eine Art Dreiklang, wobei der Schlussvokal eine Eigenresonanz im Schädel erzeugt, in die er sich verliebte: „Das Rufen veränderte den Ort. Das Fachwerk der gegenüber liegenden Häuser, der aus den Scheunen bröckelnde Lehm, die Lattenzäune, die Silberweiden am Tümpel (...) - die Dinge wirkten nicht mehr vereinzelt, sie zeigten mir ihre Zusammengehörigkeit, gemeinsam ergaben sie ein Bild, und dieses Bild war ganz und gar stimmig.“ Diese Epiphanie charakterisiert für ihn den „Klangraum“ des Gedichts, „gefüllt mit Abwesenheit“.,

Mit Lutz Seiler verleiht die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung den mit 50.000 Euro dotierten Georg-Büchner-Preis an einen Schriftsteller, der mit höchster Ernsthaftigkeit und persönlicher Aufrichtigkeit noch einmal zeigt, was Literatur kann – und was nur Literatur kann. Wer die Geduld mitbringt, sich darauf einzulassen, wird sich schwer dem Stück Evolutionsgeschichte entziehen können, das „schrift für blinde riesen“ eröffnet: „stunde null im habitat, der sogenannte affenmensch / sitzt in der savanna & kann / nichts sehen - das gras // ist zu hoch,. dann das knacken, hörbar / in den kapseln, ein druck, ein griff / nach der geschichte: daumen & zeigefinger // kommen zusammen, die / schreibhand entsteht. zehntausend jahre / vor dem aufrechten gang“.

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