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© Tagesspiegel / European Focus

European Focus #19: Katastrophe und Solidarität

+++ Solidarität in den Trümmern +++ 1.652 +++ Ausgebliebene Warnung +++ Mehrfach-Krise in Syrien +++ Quantität ≠ Qualität +++

Stand:

Hallo aus Warschau, 

während ich diese Zeilen schreibe, ist die Zahl der Opfer des Erdbebens in der Türkei und in Syrien auf über 37.000 gestiegen. In den kommenden Wochen werden wir uns immer wieder fragen, ob eine der größten humanitären Katastrophen der letzten Jahrzehnte hätte vermieden werden können, wenn zum Beispiel die türkischen Häuser solider gebaut worden wären.

Gleichzeitig hat die Tragödie ein hohes Maß an Solidarität in der Welt ausgelöst. Deutschland hat die Visumspflicht für syrische Opfer aufgehoben. Griechen sind Türken zu Hilfe geeilt, obwohl es bekannterweise immer wieder Spannungen zwischen den beiden Ländern gibt.

In dieser Ausgabe von European Focus schauen wir uns an, wie Europa das Thema humanitäre Hilfe und Schutz vor Naturkatastrophen angeht. Sind wir angesichts der offenen Grenzen zwischen den EU-Ländern wirklich in der Lage, zusammenzuarbeiten? Und ist es manchmal nicht so, dass wir – Beispiel Deutschland – anderen großzügig helfen können und wollen, unsere eigenen Probleme aber nicht in den Griff bekommen?

Michał Kokot, dieswöchiger Chefredakteur

Solidarität in den Trümmern

Die Katastrophe in der Türkei hat die Nachbarländer und den Rest der Welt geschockt. In griechischen Städten wie Athen und Thessaloniki sammelten Freiwillige umgehend Lebensmittel, Kleidung für Erwachsene und Kinder, Erste-Hilfe-Sets, Schmerzmittel und andere Medikamente, Decken, Schlafsäcke sowie Bargeld, um sie in die betroffenen Gebiete zu schicken. Bis vergangenen Donnerstag hatte Griechenland 90 Tonnen Hilfsgüter in die Türkei geliefert.

Das Erdbeben vom 6. Februar kostete nach aktuellem Stand mehr als 37.000 Menschen das Leben. Es erinnert mich an das schwere Erdbeben von 1999 in der Türkei und Griechenland. Damals starben in der Türkei 17.000 Menschen; in Athen 143. Griechische und türkische Rettungsteams arbeiteten zusammen. Damals wie heute trafen sich der griechische und der türkische Außenminister und führten freundliche Gespräche, die Hoffnung auf einen Wandel in den Beziehungen zwischen den beiden Ländern machten.

In diesem Sinne posten die Menschen nun auf Facebook, Twitter und Instagram Fotos von griechischen und türkischen Rettungsteams, die zusammenarbeiten, oder von Griechen, die türkische Überlebende aus den Trümmern bergen. Griechische Medien berichten über die Tragödie mit Schlagzeilen wie „Welle der Solidarität für die Menschen in der Türkei“, „Sammelstellen für humanitäre Hilfe für die Erdbebenopfer in der Türkei und in Syrien“ und „Türkischer Dank in den sozialen Medien für griechische Hilfe“.

Die Solidarität zwischen den beiden Ländern hat auch im Westen für Schlagzeilen gesorgt. Die ausländische Presse spricht von einer neuen Ära zwischen den beiden „alten Feinden“. Dabei wird die Geschichte der beiden Länder oft ignoriert oder nicht zur Kenntnis genommen. Denn jenseits der Kriege, der Differenzen, des Nationalismus und seiner Instrumentalisierung für politische Zwecke, geht es vor allem um die Menschen.

Ja, die diplomatische Geschichte zwischen Griechenland und der Türkei ist komplex und widersprüchlich. Für einen Leser, der versucht, sich mit ihren Irrungen und Wirrungen auseinanderzusetzen, entwickelt sie sich wie eine Spirale, die einen schnell nach unten zieht und deprimieren kann. Jenseits und über der Politik stehen aber die Menschen und ihre Beziehungen. Das gilt immer, auch wenn viele es hin und wieder vergessen.

Eleni Stamatoukou ist eine griechische Journalistin. Sie arbeitet aus Athen für Balkan Insight.

Zahl der Woche: 1.652

Bis Redaktionsschluss hatte die Europäische Union im Rahmen ihres Zivilschutz-Mechanismus (Civil Protection Mechanism) 1.652 Einsatzkräfte in die Türkei entsandt. Sie gehören 36 medizinischen und technischen Teams der EU an, die derzeit in den betroffenen Gebieten Nothilfe leisten.

Die Zahl der Rettungskräfte, mit der die EU auf diese Katastrophe reagiert, ist beispiellos. Zum Vergleich: Nach Chile wurde kürzlich ein Kontingent von 250 Spezialisten entsandt, um dort bei der Bekämpfung der Waldbrände zu helfen, die rund 300.000 Hektar Wald verwüstet und 24 Menschenleben gefordert haben.

Die aktuell in die Türkei entsandten Teams sind dabei nur die Ersthelfer. In den kommenden Wochen sollen weitere materielle und finanzielle Hilfen für die von der Katastrophe betroffene Region bereitgestellt werden.

Kata Moravecz ist Journalistin mit Schwerpunkt Demokratie und EU aus Ungarn.

Ausgebliebene Warnung 

Wie kann in Katastrophenfällen gute grenzüberschreitende Kooperation zwischen EU-Ländern aussehen? Polen zeigt jedenfalls, wie man es nicht machen sollte: Die Oder/Odra ist der zweitgrößte Fluss Polens und fließt unter anderem entlang der polnisch-deutschen Grenze. Ein Teil des Flussbeckens liegt also auch auf deutscher Seite. Ein gemeinsamer Fluss bedeutet gemeinsame Probleme und Herausforderungen: Umweltschutz, Hochwasser-Management, Instandhaltung von Brücken und auch die Entwicklung des Tourismus.

Abgesehen von großen Überschwemmungen (die schwerste in Polen gab es 1997) ist an der Oder bisher nicht viel passiert, was Journalisten unserer nationalen Medien sonderlich interessiert hätte – bis zum trockenen Sommer 2022. Fotos von tausenden verendeten Fischen, die die Oder hinuntertrieben, gingen in ganz Europa viral. Ein großer Fluss in Polen drohte schlichtweg auszutrocknen. 

Irgendwann erreichte diese toxische Welle auch Deutschland. Hätten die polnischen Behörden ihre deutschen Kollegen über die bevorstehende Umweltkatastrophe informiert, hätten letztere Zeit gehabt, sich entsprechend vorzubereiten. Sie hätten die Flüsse und Kanäle, die in die Oder fließen, entsprechend vorbereitet und die Notfalldienste mobilisiert.

Faktisch aber hat niemand in Polen bei den Nachbarn angerufen oder auch nur eine E-Mail geschickt. Stattdessen gab es Anschuldigungen von nationalkonservativen Aktivisten, die behaupteten, „die Deutschen“ hätten die Oder „vergiftet“ und würden nun versuchen, die Schuld auf die Polen abzuwälzen. Derartige Anschuldigungen sind natürlich absurd: Dafür hätte das „Gift“ flussaufwärts fließen müssen, schließlich wurden die ersten toten Fische bereits 200 km von der deutschen Grenze entfernt gesichtet, tief in polnischem Gebiet und deutlich näher an der Quelle.

Die Situation in und an der Oder könnte sich diesen Sommer wiederholen. Der Fluss ist nach wie vor versalzen, der Wasserstand wird aufgrund hoher Temperaturen und des Klimawandels höchstwahrscheinlich wieder dramatisch sinken. Gleichzeitig stehen in Polen Wahlen an, und ein antideutsches Narrativ ist für die nationalkonservative Regierungspartei PiS immer wichtig. Wird man sich in Warschau daher wieder nicht dazu aufraffen können, die Nachbarn in Berlin vernünftig vorzuwarnen?

Bartosz Wieliński ist stellvertretender Chefredakteur der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza.

Mehrfach-Krise in Syrien

Der im türkischen Gaziantep lebende Hakim Khaldi ist Forschungsleiter für die Region Naher Osten bei der französischen Nichtregierungsorganisation Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières). Die Organisation kümmert sich aktuell vor allem um die humanitären Bedürfnisse in Nordsyrien. Bei dem Erdbeben kamen in Syrien mehr als 3.500 Menschen ums Leben.

Was sind aktuell die dringendsten Bedürfnisse und Herausforderungen in Syrien? 
Was die medizinische Versorgung betrifft, so besteht Bedarf auf allen Ebenen. Die meisten Menschen, die in der Region Idlib leben, sind Kriegsvertriebene, teilweise sogar mehrfach Vertriebene. Als sich das Erdbeben am Montag (6. Februar) ereignete, kamen viele Menschen in die Krankenhäuser. Médecins Sans Frontières (MSF) betreibt eines der wenigen Brandopfer-Krankenhäuser in den syrischen Oppositionsgebieten. Wir mussten Ausrüstung, Fahrzeuge und medizinische Teams für die betroffenen Gebiete bereitstellen. Die Krankenhäuser an der Grenze haben einfach nicht die Kapazitäten, um die zum Teil schwer verletzten Menschen aus Syrien zu behandeln, und die meisten türkischen Krankenhäuser in der Nähe sind zerstört oder beschädigt. Die aktuelle Situation wirft uns um fünf Jahre zurück. Es gibt jetzt noch weniger feste und stabile Gebäude; noch mehr Menschen müssen in Zelten leben.

Syrien ist ein durch Krisen und Krieg zerrüttetes Land. Mehrere Staaten erkennen die Legitimität des Regimes von Baschar al-Assad nicht an. Wie wirkt sich das auf die Lieferung von humanitären Hilfsmitteln aus? 
Es gibt bei den Lieferungen zwei Hauptprobleme. Erstens ist Syrien ein Land im Krieg. Zweitens können westliche Länder wegen der US-Sanktionen keine bilaterale Hilfe schicken. In der Türkei hingegen haben mehrere Staaten, darunter Frankreich, Katar und Saudi-Arabien, sofort Hilfe geleistet. Sie können jedoch keine humanitären Flüge in Damaskus oder Aleppo landen. Daher ist man in Syrien von den direkten Grenzländern abhängig, um Hilfe zu erhalten.

Wird die Lage noch problematischer, da vor allem die Region Idlib betroffen ist; also die letzte Enklave der syrischen Opposition, die sich der Kontrolle des Regimes in Damaskus entzieht?
Das Regime stellt dort keine Hilfe zur Verfügung. Im Norden Syriens ist die Bevölkerung daher auf den Korridor Bab al-Hawa an der syrisch-türkischen Grenze angewiesen. Das Ausbleiben der bilateralen Hilfe hat für MSF schwerwiegende Folgen: Unsere Notvorräte sind aufgebraucht. Wir müssen um Notfalllieferungen aus den Nachbarländern bitten, aber das dauert, da die Türkei ja selbst schwer von dem Erdbeben betroffen ist. Seit 2014 muss der humanitäre Korridor Bab al-Hawa durch eine UN-Resolution alle sechs Monate bestätigt und verlängert werden. Das erschwert ein kontinuierliches Funktionieren des Gesundheitssystems.

Léa Masseguin ist Journalistin in der Auslandsredaktion der französischen Zeitung Libération aus Paris.

Quantität ≠ Qualität

Die Austerität in Deutschland ist anscheinend vorbei: 200 Milliarden Euro für die Eindämmung der Inflation und der Energiepreise, weitere hundert Milliarden für die Aufrüstung der Bundeswehr… Und: 2,7 Milliarden für die humanitäre Hilfe im Jahr 2023.

Was im Vergleich zum sonstigen Geldregen der letzten Zeit eher wie ein Tropfen auf den heißen Stein erscheinen mag, ist in Wirklichkeit das weltweit zweithöchste Budget für globale Krisen- und Katastrophenhilfe, nur übertroffen von den USA. Natürlich ist es gut und wichtig, entsprechende Gelder zu mobilisieren. Allerdings droht man in Deutschland dabei eine einfache Tatsache zu übersehen: Quantität ist nicht gleich Qualität.

Das deutsche Budget für internationale humanitäre Hilfe lässt im direkten Vergleich selbst die Maßnahmen der Europäische Kommission erblassen. Was das Land jedoch dringend braucht, ist eine adäquate Organisationsstruktur, um das Geld dort einzusetzen, wo es tatsächlich gebraucht wird. Stattdessen wird ein Großteil der Geldsummen in große Organisationen gepumpt. „Die Hilfe muss viel stärker lokal ausgerichtet werden,“ fordert dementsprechend Ralf Südhoff, Leiter des Centre for Humanitarian Action, einem Think-Tank mit Sitz in Berlin.

Ironischerweise ist innerhalb Deutschlands das komplette Gegenteil einer solchen Zentralisierung zu beobachten. Zwar hat die Bundesregierung die Aufgabe, ihre Bürgerinnen und Bürger in Krisenzeiten zu schützen, doch jedes Bundesland hat seine eigenen Rettungsdienste für Naturkatastrophen, die wiederum zu 90 Prozent von ausgebildeten Freiwilligen getragen werden. Was fehlt, ist eine zielgerichtete Finanzierung und Koordination, sowohl zwischen den Ländern als auch innerhalb des Bundes.

Als es im Juli 2021 zur Überflutung des Ahrtals kam, starben über 130 Menschen, weil die lokalen Behörden Warnungen ignorierten oder falsch interpretierten und Evakuierungen zu spät anordneten. Dass es im Tal zu Überschwemmungen kommen kann, ist aus der Geschichte bekannt – dies wurde aber ebenfalls ignoriert. Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn der Staat die Bedrohung durch derartige Naturkatastrophen ernst genommen hätte.

Leider hat sich seitdem wenig verbessert. Installationen wie Warnsirenen sind nach wie vor unterfinanziert, gemeinsame Protokolle und Leitlinien wurden kaum erstellt und Fragen der Auswirkungen des Klimawandels stehen immer noch nicht im Mittelpunkt des Interesses.

Als Karl Marx seinen Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte schrieb, betonte er, dass große historische Ereignisse dazu neigen, sich zu wiederholen: erst als Tragödie, dann als Farce. Die Tragödie hat sich im Ahrtal bereits ereignet. Die Farce besteht darin zu glauben, dass wir beim nächsten Mal besser auf Alarmsignale hören und reagieren werden.

Alexander Kloss ist Journalist beim Tagesspiegel. Er hat sich auf die Schnittstelle von Politik, Kultur und Wirtschaft spezialisiert.

Danke, dass Sie die 19. Ausgabe von European Focus gelesen haben.

Wie Sie sehen, gibt es in Sachen humanitärer Hilfe und ihrer Koordination noch viel zu tun. Probleme gibt es vor allem in Ländern, in denen Krieg herrscht und der Zugang zu und für Hilfsmittel schwierig ist.

Es bleibt abzuwarten, ob Europa aus den aktuellen (und früheren) Ereignissen Lehren zieht.

Bis nächste Woche! 

Michał Kokot

Der Newsletter European Focus wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich diejenigen der Autor:innen und spiegeln nicht notwendigerweise die der Europäischen Union oder von „Creative Europe“ wider. Weder die EU noch die ausstellende Behörde können für sie zur Verantwortung gezogen werden.

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