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European Focus #22: Stark, stolz, feministisch und wütend

+++ Die Solidarität der Witwen +++ Zahl der Woche: 30 +++ Frauen an der Spitze des Protests +++ Mehr als ein Modewort +++ Vom Machismo zum Feminismus

Hallo aus Târgu Mureș/Marosvásárhely,

„Wenn eine stirbt, gehen wir alle zugrunde“, rufen die rumänischen Frauen bei ihren Protesten gegen die steigende Zahl von Femiziden im Land.

In diesem verzweifelten Satz steckt eine tiefe Erkenntnis – und eine tiefe Angst. Die Verteidigung der Rechte der Frauen ist sowohl auf nationaler als auch auf globaler Ebene vielfältig verknüpft. Das gilt auch, wenn es zur Verletzung dieser Rechte kommt. Wenn es in den sogenannten freien und demokratischen Staaten keine soziale Sicherheit und keine Gerechtigkeit gibt, was können wir dann an Orten erwarten, an denen ein Krieg wütet?

Darum geht es in den folgenden Texten, die in der Internationalen Frauenwoche erscheinen: In einer Zeit siechender Volkswirtschaften und kollabierender Staaten liegt unsere ganze Hoffnung in bürgerlichem und zivilgesellschaftlichem Engagement, globalem Verantwortungsbewusstsein und einer Schwesterlichkeit, die keine Grenzen kennt.

Von Paris bis Tallinn, von Kiew bis Madrid muss die Erkenntnis heißen: Wer die Rechte der Frauen verteidigt, verteidigt die Gesellschaft als Ganzes.

Boróka Parászka, dieswöchige Chefredakteurin

Die Solidarität der Witwen

Die 34-jährige Tamara hat eine zierliche Figur, ein schönes Gesicht und ein strahlendes Lächeln. Sie lässt sich gerne fotografieren, liebt es, mit ihrem sechsjährigen Sohn über verschiedene Automarken zu sprechen, und sammelt ukrainische Vintage-Kleidung und -Accessoires. Sie trägt immer noch ihren Ehering. Doch sie ist Witwe, genau wie tausende andere ukrainische Frauen nach einem Jahr Krieg.

Ihr Ehemann Oleksij Janin war Weltmeister im Thaiboxen – und seit 2014 Soldat im Regiment Asow. Dieses kämpfte in einigen der bisher intensivsten Auseinandersetzungen des Krieges an der Front. Im vergangenen April wurde sein Bataillon von der russischen Armee in Mariupol eingekesselt. Oleksij fiel dort.

Tamara konnte seinen Tod zunächst schwer verkraften. Am Morgen des 24. Februar, als sie ihn zum letzten Mal sah, hatte sie ihm auf dem Bahnhof nicht einmal einen Abschiedskuss gegeben. „Alles, was ich jetzt und in Zukunft tue, ist für Dich, über Dich, in Deinem Gedenken,“ schrieb sie in Nachrichten an Oleksij, die er nie lesen wird. Inzwischen sind Dankbarkeit und Stolz stärker geworden als der Schmerz. Was ihr jetzt Kraft gibt, ist die Unterstützung und Fürsorge für andere.

Einen Monat nach Oleksijs Tod begann sie, sich um die Familien anderer toter Asow-Soldaten zu kümmern. Tamara traf sie in Chatrooms, in denen Angehörige darüber sprachen, wie man die Leichen identifizieren und ihre Überreste bestatten könne. Viele dieser Frauen hatten zuvor selbst in den jetzt besetzten Gebieten gelebt, so dass sie nicht nur ihre Ehemänner oder Söhne verloren haben, sondern auch ihr Zuhause, ihr Hab und Gut, ihre Lebensgrundlage. Tamara sammelt Kleidung, Lebensmittel, Medikamente, Hygieneartikel und Bücher für die vertriebenen Frauen und Kinder. Sie hilft ihnen, Arbeit und eine Bleibe zu finden. In einem Raum, den sie als Lager für Waren und Hilfsgüter nutzt, sind die Wände über und über mit den Telefonnummern anderer Witwen bedeckt.

„Ich liebe sie alle, bedingungslos. Ich glaube, ich kann sie verstehen wie keine andere. Auf diese Weise danke ich ihren Ehemännern,“ so Tamara. Sie sei aus ihrer Rolle als traditionelle Ehefrau und Mutter im Mutterschutz herausgetreten und hat sich zu einer „kollektiven Mutter“ entwickelt, die Frauen unterstützt, die in Trauer und Verlust vereint sind.

Oksana Rasulova ist Journalistin beim Portal Babel.ua in Kiew. Sie befasst sich mit sozialen Themen.

Zahl der Woche: 30

30 der 101 Sitze im neuen estnischen Parlament werden nach den Parlamentswahlen der vergangenen Woche mit weiblichen Kandidatinnen besetzt. Dies entspricht der durchschnittlichen Repräsentanz von Frauen in den Parlamenten der EU-Staaten.

Die amtierende Ministerpräsidentin Kaja Kallas hat eine Rekordzahl an Stimmen erhalten, doch nur 13 der 37 Sitze, die ihre Reformpartei gewonnen hat, werden künftig von Frauen eingenommen. Dennoch: 30 weibliche Abgeordnete ist die bisher höchste Anzahl an Frauen, die je in das Parlament in Tallinn gewählt wurde.

Der Weg zur Gleichberechtigung ist lang und steinig. Ein Lichtblick: Diesmal schien es mehr öffentliche Aufrufe an die Wählerinnen und Wähler gegeben zu haben, ihre Stimme für eine weibliche Kandidatin abzugeben.

Holger Roonemaa ist Leiter des Investigativ-Teams bei Delfi aus Tallinn.

Frauen an der Spitze des Protests gegen die französische Rentenreform

„Wir sind stark, wir sind stolz, wir sind feministisch, radikal und wütend.“ In den vergangenen Wochen hallte dieser klassische Slogan des feministischen Protests in Frankreich in den Demonstrationen gegen die Rentenreform der Regierung wider. Frauen stehen an vorderster Front gegen diese Reform, mit der das gesetzliche Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre angehoben und die für den Erhalt einer vollen Rente erforderlichen aktiven Arbeitsjahre erhöht werden sollen.

Frauen werden dabei die größten Verliererinnen sein. In Frankreich (wie auch anderswo) werden die Karrieren von Frauen oft unterbrochen: Sie sind es, die ihre Arbeit ruhen lassen, um Kinder zu gebären und aufzuziehen. Sie sind es meistens auch, die Teilzeit arbeiten, um kranke oder alternde Familienmitglieder zu pflegen. Außerdem werden sie oft von leitenden Positionen ausgeschlossen, die größtenteils Männern anvertraut werden.

Die Folgen dieser sexistischen Karrierestruktur zeigen sich vor allem im Wirtschaftlichen, im Finanziellen: Frauen verdienen in Frankreich im Durchschnitt 15,8 Prozent weniger als Männer. Noch schlimmer sieht es im Rentenalter aus. Die Renten von Frauen sind im Durchschnitt 28 Prozent niedriger als die von Männern.

Die Rentenreform birgt das Risiko, diese Ungleichheiten weiter zu verstärken, indem von Frauen verlangt wird, länger zu arbeiten. Selbst der Beauftragte des Ministers für parlamentarische Beziehungen, Franck Riester, hat eingeräumt, dass „Frauen durch die Verschiebung des gesetzlichen Rentenalters etwas benachteiligt werden“.

Weitere Faktoren spielen ebenfalls eine Rolle, beispielsweise die mangelnde oder komplett ausbleibende (auch finanzielle) Wertschätzung von anstrengenden, meist von Frauen ausgeübten Tätigkeiten, die ihnen den Eintritt in den Vorruhestand unmöglich macht.

Bei den Protesten greifen Frauengruppen auf bekannte Lieder zurück und choreographieren kämpferische Tänze, um diese Ungleichheiten sichtbarer zu machen. In diesem Jahr hatte die traditionelle Demonstration zum Frauentag am 8. März passenderweise ein sozialpolitisches Motto. Gefordert wurde die Abschaffung der antifeministischen Rentenreform.

Nelly Didelot arbeitet im Auslandsressort von Libération in Paris. Sie befasst sich mit Mittel- und Osteuropa sowie mit Umweltthemen.

Mehr als ein Modewort

„Ich muss zugeben, dass ich mich in diesem Prozess immer wieder gewundert habe, was das für ein ‚Triggerwort‘ ist, dieses kleine Wort ‚feministisch‘. Dabei ist das, was wir mit diesen Leitlinien anstreben, etwas, was im 21. Jahrhundert eigentlich selbstverständlich sein sollte. [...] Frauen stellen bekanntermaßen in jedem Land die Hälfte einer Gesellschaft. Feministische Außenpolitik ist also kein Kampfbegriff, sondern leitet sich bei uns aus dem Grundgesetz ab. Und das ist sicher kein Gedöns. Es ist eine harte Sicherheitsfrage.“

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat in der vergangenen Woche die Leitlinien für ihre angestrebte feministische Außenpolitik vorgestellt. Politische Gegner spotteten, damit schaffe sie nur ein weiteres bedeutungsloses Modewort. Aus Sicht von FDP-Vize Kubicki gehe es sogar lediglich um die „emotionale Befriedigung innenpolitischer Akteure”.

Dabei ist Baerbocks Ziel einfach und klar: eine Außenpolitik, in der der menschliche Aspekt im Vordergrund steht. Das bedeutet auch, Frauen in den Vordergrund zu rücken: „Wo Frauen sicher sind, dort sind wir alle sicherer,“ betonte sie.

Alexander Kloß ist Journalist beim Tagesspiegel. Er hat sich auf die Schnittstelle von Politik, Kultur und Wirtschaft spezialisiert.

Vom Machismo zum Feminismus

Ich bin aus Wut Feministin geworden. Als Kind habe ich nur dann vor anderen geweint, wenn ich etwas als ungerecht empfand – zum Beispiel, dass es viel einfacher war, ein Junge zu sein als ein Mädchen. Jungen durften einfach mehr Dinge machen. Später konnte ich diesen Gefühlen und Gedanken ein Konzept zuordnen: Feminismus.

Im Erwachsenenalter versuchte ich, mit zahlreichen Widersprüchlichkeiten und Konflikten zurechtzukommen, von der Erziehung in einer sexistischen Welt (ich bevorzuge immer noch das spanische Wort: Machismo) bis hin zur eigenen Überkompensation mit Gedanken wie ‚Ich bin kein Opfer‘ und ‚Ich bin erfolgreich, wenn ich mich persönlich anstrenge‘ etcetera. Tatsächlich ist es aber mehr als nur persönliche Anstrengung; wir bauen auf dem Kampf so vieler Frauen vor uns auf.

Was die Gesetzgebung angeht, ist Spanien einer der progressivsten Staaten: Die Regierung hat gerade ein Gesetz vorgelegt, das die Parität in Wahllisten verbindlich vorschreiben würde. Spanien hat einen der längsten (und nicht auf die Mutter übertragbaren) Vaterschaftsurlaube in Europa. Nicht schlecht für ein Land, das von einigen nach wie vor als besonders katholisch-konservativ wahrgenommen wird, oder?

Manche sind allerdings der Meinung, dass die Gesetze vielleicht zu früh eingeführt wurden und die Gesellschaft dafür noch nicht bereit sei. In Spanien gibt es nach wie vor Machismo: im täglichen Leben, auf den Straßen, wo Frauen belästigt werden, wo Ehefrauen noch immer von ihren Männern geschlagen werden, in Form des sozialen Drucks und der Erwartungen an Frauen. Wir haben immer noch zu leiden.

Ich freue mich auf den Tag, an dem eine Frau genauso mittelmäßig sein kann wie ein Mann und trotzdem die gleichen Chancen hat. Manche Männer in Spanien sagen Frauen wie mir, die mehr Gleichberechtigung fordern: „Spanien ist eines der ‚feministischsten‘ Länder. Warum gehst du nicht in den Iran, um zu protestieren? Dort haben sie wirkliche Probleme, hier nicht.“

Ich bin aber der festen Überzeugung, dass man nicht warten muss, bis eine Gesellschaft „bereit“ ist, um Veränderungen vorzunehmen – insbesondere, wenn es um so etwas Grundlegendes wie Gerechtigkeit und Gleichberechtigung geht. Die spanische Gesellschaft wird mit Sicherheit irgendwann dieselbe Mentalität an den Tag legen, die diesen neuen Gesetzen bereits innewohnt.

Natürlich ist auch mir bewusst, dass es Länder gibt, in denen die Lage der Frauen schlechter ist als in Spanien. Hier und jetzt ist es aber an der Zeit, über unsere Rechte und Pflichten hierzulande zu sprechen und darüber, wo es Verbesserungsbedarf gibt, unterstützt durch Gesetze und darüber hinaus.

Alicia Alamillos ist Journalistin mit Fokus auf internationale Nachrichten bei El Confidencial aus Madrid.

Danke, dass Sie die 22. Ausgabe von European Focus gelesen haben.

Es gibt Situationen, in denen man einfach keinen Rückzieher machen kann. Es darf keine Kompromisse auf Kosten der gesellschaftlichen und sozialen Sicherheit geben.

Faire Gesetze garantieren eine faire Gesellschaft. Frauen und Kinder dürfen in Zeiten des Krieges nicht ohne Unterstützung bleiben. Ich hoffe, unsere Artikel haben dazu beigetragen, dies zu verdeutlichen.

Bis nächste Woche!

Boróka Parászka

Der Newsletter European Focus wird von der Europäischen Union finanziert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich diejenigen der Autor:innen und spiegeln nicht notwendigerweise die der Europäischen Union oder von „Creative Europe“ wider. Weder die EU noch die ausstellende Behörde können für sie zur Verantwortung gezogen werden.

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