
© dpa/Sebastian Gollnow
Gedenkort Polen am Kanzleramt: Überraschend spät – und doch würdig
Wie konnte Nachbar Polen so lange ein blinder Fleck bleiben? Das Erinnern an die NS-Verbrechen dort schärft das Gewissen für die wachsende Rechtlosigkeit und die Kriege der Gegenwart.

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Warum war das jetzt erst möglich, im Juni 2025? Polen war das erste Opfer des Zweiten Weltkriegs. Dennoch tat sich die Bundesrepublik über Jahrzehnte schwer, dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 und den Millionen Opfern der Besatzung im direkten Nachbarland einen angemessenen Platz in der Erinnerung zu geben.
Am Montag wurde ein würdiger Gedenkort eingeweiht: ein Stein unter einem Wildapfelbaum mit einer bronzenen Erinnerungstafel auf einer Rasenfläche zwischen Kanzleramt und Reichstag. Es soll nur ein Provisorium sein. Aber dieses Provisorium wirkt so gelungen, dass man die Frage stellen könnte, ob der geplante Gedenkort so viel eindrucksvoller sein wird?
Auch die Ortswahl ist stimmig: der Platz, auf dem einst die Krolloper stand. Sie war nach dem Reichstagsbrand der Sitz dessen, was vom demokratischen Parlament der Weimarer Republik noch übrig war. Dort hörten die Abgeordneten am 1. September 1939 Hitlers Rede zum Überfall auf Polen.
Es gibt wohl keine Familie in Polen, die nicht persönlich vom Besatzungsunrecht betroffen war.
Polens Kulturministerin Hanna Wróblewska
Im Rückblick ist es schwer zu erklären, dass dieser Ort erst jetzt eingeweiht wurde: 86 Jahren nach dem Angriff auf Polen, 80 Jahre nach dem Ende des Weltkriegs. Schließlich ist die deutsche Gesellschaft generell ziemlich stolz auf ihre Erinnerungskultur. Wie konnte Nachbar Polen und sein Schicksal unter der NS-Herrschaft so lange ein blinder Fleck bleiben?
Bis 1989 lag die sozialistische Volksrepublik Polen für die Westdeutschen hinter dem Eisernen Vorhang. Und in der DDR erreichte die von oben verordnete sozialistische Freundschaft die Bürger nicht. Bis auf ein kurzes Zeitfenster 1979 durften einfache Ostdeutsche nicht nach Polen reisen. Als die unabhängige Gewerkschaft Solidarność 1980/81 um mehr Freiheit kämpfte, wurde die Grenze an Oder und Neiße noch dichter. Die DDR-Oberen hatten Angst vor dem polnischen Freiheitsbazillus.
Blickt man jedoch auf die Dimension der Verbrechen der Nazis in Ost und West, wächst das Unverständnis, warum das Bewusstsein für die Untaten in Frankreich, den Niederlanden, Norwegen, Griechenland oder Italien so viel verbreiteter ist als das Wissen um das weit schwerer wiegende Ausmaß der Unterdrückung und der Massenmorde in Polen.
Der Anstoß für einen Gedenkort für die polnischen Opfer der NS-Herrschaft im Herzen von Berlin kam 2017 aus der Zivilgesellschaft: von Persönlichkeiten mit wachem Herzen und Gewissen. Doch sie brauchten ein hartnäckiges Durchhaltevermögen, bis die Idee auch in der Politik eine Mehrheit fand.
Und sie mussten sich mit Änderungen ihres ursprünglichen Plans abfinden. Der Ort und das Konzept durchliefen Änderungen, als die Erinnerungsprofis übernahmen.
Wer den guten Willen von Polen und Deutschen bei der Einweihung am Montag in Berlin erleben und die vorbildlich kurzen und zugleich inhaltsreichen Ansprachen hören durfte – elf Rednerinnen und Redner samt zwei Musikstücken des polnischen Konzertmeisters der Berliner Philharmoniker Krzysztof Polonek in weniger als 60 Minuten –, darf guten Muts sein: Das wird etwas. Aus einer Idee ist Realität geworden.
Das verbreitete Nicht-Wissen um die deutschen Verbrechen in Polen bleibt ein Hindernis für das Verstehen. Deshalb haben die Planer wohl recht: Ein Mahnmal genügt nicht. Das Informationszentrum ist nötig, der Begegnungsort ebenso. Die Erlebnisgeneration der deutschen Besatzung von 1939 bis 1945 lebt zum Großteil nicht mehr. Die nachwachsenden Generationen brauchen andere Quellen.
Polens Kulturministerin Hanna Wróblewska hat den polnischen Blick auf das Mahnmal in Berlin erläutert: Es gibt wohl keine Familie in Polen, die nicht persönlich vom Besatzungsunrecht betroffen war. Erinnern ist nicht nur das Geheimnis der Versöhnung. Es schärft auch das Gewissen. In einer Zeit, in der das Recht international an Macht verliert und die Gewalt vermehrt um sich greift, ist diese Einsicht besonders wertvoll.
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