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Hungersnot in Gaza: Warum die wenigen Hilfsgüter oft nicht bei den Bedürftigen ankommen
Israel lässt wieder etwas mehr Lieferungen von Lebensmitteln zu. Aber eine geordnete Verteilung ist oft nicht möglich. Woran das liegt – die wichtigsten Fragen und Antworten.
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Die Bilder und Berichte sind erschütternd. Da stürmt eine verzweifelte Menschenmenge auf Paletten mit Hilfsgütern zu. Abgemagerte Männer und Jugendliche kämpfen um Mehlsäcke. Abertausende harren in staubigen Straßen aus, um sich ein wenig Reis oder Linsen zu sichern. Immer wieder gibt es Panik, weil Schüsse fallen. Menschen sterben.
Die Not im Gazastreifen ist verheerend. Israel lässt nach übereinstimmenden Einschätzungen von Experten zu wenig Hilfe zu. Auch dadurch bedingt kommt es zum Chaos beim Verteilen.
Das Recht des Stärkeren führt offenkundig dazu, dass die Schwächeren leer ausgehen. Zudem werden die Bestände von Banden geplündert, Lagerhallen überfallen.

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Es gibt zudem Vorwürfe, auch die Hamas würde Hilfslieferungen für sich abzweigen. Inwiefern dies systematisch geschieht, ist umstritten. Die Vereinten Nationen und internationale Organisationen sehen dafür keine Belege. Israel dagegen macht die Terrorgruppe für die Hungerkrise mitverantwortlich.
Auch die Bundesregierung geht davon aus, dass ein erheblicher Anteil der Güter von den Islamisten und Kriminellen abgezweigt wird. Kanzleramtsminister Thorsten Frei sprach am Montag von mehr als „50 und bis zu 90 Prozent“. Auf welche Quellen er sich dabei stützt, blieb unklar.
Wie viel Hilfe lässt Israel jetzt wieder zu?
Israel sieht sich seit Monaten Vorwürfen ausgesetzt, nicht genug für die Versorgung der Bevölkerung in Gaza zu tun und sie hungern zu lassen. Im März hatte es eine vollständige Blockade verhängt, die fast drei Monate andauerte.
Inzwischen lässt der jüdische Staat wieder in geringem Umfang Hilfe in den Küstenstreifen. So erlaubt Israel den Abwurf von Lieferungen aus der Luft – zum Beispiel von der deutschen Luftwaffe – und lässt etwa 200 Lastwagen mit Nahrungsmitteln pro Tag nach Gaza.
Nach Angaben des Büros für Projektdienste der Vereinten Nationen (UNOPS) sind zwischen dem 19. Mai und dem 4. August insgesamt nur 2545 Lastwagen mit 44.650 Tonnen humanitärer Hilfe an den Grenzübergängen nach Gaza abgefertigt worden.

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Davon konnten auf 2604 Lastwagen 35.960 Tonnen von Mitarbeitern der Vereinten Nationen oder anderer Organisationen abgeholt werden, aber nur 300 Lastwagen seien an den vorgesehenen Verteilstellen angekommen.
Nach Angaben von UNOPS sind 23.353 Tonnen „entweder friedlich von hungrigen Menschen oder gewaltsam von bewaffneten Akteuren während des Transports in Gaza abgefangen worden“.
Die israelische Cogat-Behörde – sie ist für die Koordination humanitärer Hilfe zuständig – spricht von deutlich mehr Lieferungen: Im selben Zeitraum, also zwischen 19. Mai und 4. August, sollen mehr als 102.000 Tonnen Hilfsgüter, in den Gazastreifen gebracht worden sein.
Darunter 41.201 Tonnen für UN-Organisationen, 55.267 Tonnen für internationale Helfer, womit auch die Gaza Humanitarian Foundation (GHF) gemeint sein dürfte. Dazu kämen etwa 5.000 Tonnen, zur Verfügung gestellt von einzelnen Ländern.

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Das UN-Welternährungsprogramm (WPF) hat nach eigenen Angaben zwischen 21. Mai und 3. Juli 1.200 Lastwagen mit Lebensmitteln in den Gazastreifen bringen können. Während der Waffenruhe im Frühjahr waren es 600 bis 700 Lastwagen des WFP täglich gewesen.
Welche Rolle spielt Israels neues Verteilsystem, das die UN ersetzen sollte?
Israel hat die Arbeit des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) Anfang des Jahres beendet und die bestehenden Systeme zur Verteilung humanitärer Güter mithilfe der Vereinten Nationen und anderer internationaler Hilfsorganisationen Ende Mai durch die private Gaza Humanitarian Foundation (GHF) ersetzt.
Sie verteilt täglich aber nur für wenige Stunden Lebensmittel, und das auch lediglich an vier Ausgabepunkten. Zuvor waren es etwa 400 Orte im gesamten Küstengebiet. Die GHF-Zentren selbst werden durch private US-Sicherheitskräfte geschützt, die nähere Umgebung durch die israelische Armee.
Diese setzt laut Ex-Soldaten, mit denen die Zeitung Haaretz sprach, auch Schusswaffen ein, um den Ansturm der Menschen auf die wenigen Verteilzentren in den Griff zu bekommen. Die Regierung in Jerusalem spricht von Warnschüssen. Es werde nicht gezielt auf Zivilisten gefeuert.
Seit 27. Mai sind nach Angaben der UN mindestens 1.373 Palästinenser bei der Suche nach Nahrung getötet und Tausende verletzt worden – zumeist offenbar von den israelischen Streitkräften im Umfeld der GHF-Zentren.
Helfer und Experten hatten im Vorfeld gewarnt, dass die Arbeit der Gaza Humanitarian Foundation den Grundregeln der humanitären Hilfe wie Neutralität oder Unparteilichkeit widerspreche und sie nicht in der Lage sein werde, die 2,3 Millionen Menschen zu versorgen.
Sind die Hamas und bewaffnete Banden mitverantwortlich für die Krise?
Seit fast zwei Jahren beschuldigt die israelische Regierung die islamistischen Terroristen der Hamas, systematisch humanitäre Hilfe im Gazastreifen zu stehlen. Beweise legte die Regierung bisher nicht vor. Sie nutzte aber das Argument immer wieder, um Lebensmittellieferungen nach Gaza zu stoppen.
Nach Angaben der „New York Times“ hat die israelische Armee keine Belege für die Vorwürfe. Das berichtete die Zeitung Ende Juli unter Berufung auf zwei hochrangige israelische Offiziere sowie zwei weitere Israelis, die in die Vorgänge rund um die Hilfslieferungen in Gaza involviert sind. Demnach habe das frühere Hilfssystem der UN und anderer internationaler Organisationen relativ effizient funktioniert.
Auch von anderer Seite wurde der Darstellung Israels widersprochen. Die US-Agentur für Internationale Entwicklung (USAID) untersuchte nach eigenen Angaben 156 gemeldete Verluste oder Diebstähle der von ihr organisierten Hilfslieferungen zwischen Oktober 2923 und Mai 2025. In ihrem Bericht, der Ende Juli veröffentlicht wurde, kam die Behörde zu dem Schluss, dass es in diesem Zeitraum keine Belege für systematischen Diebstahl durch die Hamas gebe.

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Allerdings gibt es Berichte, wonach die Hamas in den vergangenen Wochen Angriffe auf Konvois initiiert oder zumindest geduldet habe, damit der Eindruck des Mangels aufrechterhalten bleibe.
Dass es immer wieder zu erschütternden Szenen kommt, wenn es Lastwagen nach Gaza schaffen, belegen Fotos, Videos und Berichte von Augenzeugen. Humanitäre Organisationen bestätigen, dass es zu Plünderungen kommt.
Diese werden jedoch nicht allein der Hamas zugeschrieben, sondern mehrheitlich verzweifelten, hungernden Menschen, die alles versuchten, um an Lebensmittel zu gelangen. Auch dadurch werde die Verteilung der Hilfe stark beeinträchtigt.
Erschwerend kommt hinzu: Clans und kriminelle Kräfte überfallen offenbar mit Waffengewalt die Lieferungen. Israelische und palästinensische Medien verweisen zum Beispiel auf die Gruppe „Kräfte des Volkes“.
Sie besteht aus Mitgliedern eines Beduinenstammes unter Führung von Jasser Abu Schabab und werde von Israel mit Waffen ausgerüstet, um als Gegengewicht zur Hamas zu fungieren.
Können die Vereinten Nationen wieder mehr helfen?
In den vergangenen Tagen hat Israel wieder ein wenig mehr Hilfslieferungen der UN abgefertigt.
Der Regierung in Jerusalem zufolge sind die Vereinten Nationen nicht in der Lage, die Waren weiterzuleiten. UN-Sprecher Stéphane Dujarric reagierte auf die Kritik mit den Worten: „Kerem Shalom ist kein McDrive, wo wir nur vorfahren und abholen, was wir bestellt haben.“
Der Direktor des Welternährungsprogramms (WFP) in Deutschland, Martin Frick, erklärt die Probleme so: „Was uns behindert, sind administrative Hürden und eine katastrophale Sicherheitslage. Unsere Lastwagen warten stundenlang an Checkpoints auf die Genehmigungen, in den Gazastreifen einzufahren und müssen dann Routen nehmen, die extrem gefährlich sind, auch weil dort gekämpft wird“, sagt Frick dem Tagesspiegel. Mehr als 80 Prozent des Küstengebiets stünden unter Evakuierungsanordnung.
Derzeit erreichen täglich nur etwa 60 bis 80 Lastwagen das Gebiet – ein winziger Bruchteil dessen, was nötig wäre, um eine Hungersnot abzuwenden.
Martin Frick, Direktor des WFP-Büros für Deutschland, Österreich und Liechtenstein.
Wie andere Organisationen auch verweist das WPF darauf, dass die derzeit herrschende taktische Feuerpause nicht ausreiche, um die katastrophale Versorgungslage im Gazastreifen zu verbessern. „Derzeit erreichen täglich nur etwa 60 bis 80 Lastwagen das Gebiet – ein winziger Bruchteil dessen, was nötig wäre, um eine Hungersnot abzuwenden“, betont Frick.
Um die Lage zu stabilisieren, brauche es „alternative Routen mit klaren Sicherheitsgarantien. Dazu gehöre: Keine bewaffnete Präsenz in der Nähe humanitärer Konvois, schnellere Genehmigungen, zügigere Untersuchungen der Ladungen und eine bessere Koordination, damit wir sichere Zeitfenster und Wege nutzen können“, erklärt Frick
Zudem müssten Bäckereien und Suppenküchen wieder ihren Betrieb aufnehmen können. „Sie sind entscheidend, um Menschenansammlungen zu entzerren und eine grundlegende Versorgung für hungernde Familien sicherzustellen“. Derzeit sei die Angst vor dem Verhungern „so groß, dass Lastwagen oft noch vor ihrem Ziel von verzweifelten Menschen entladen werden“.
Seine Organisation habe gezeigt, „dass wir Hunger und Verzweiflung in Gaza eindämmen können – wenn man uns lässt. Während der Waffenruhe haben wir 600-700 Lastwagen am Tag in den Gazastreifen gebracht und an mehr als 400 Verteilstellen gezielt an Notleidende verteilt.“
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