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Israelische Soldaten bei einer Pause.

© Reuters/Ronen Zvulun

Israelische Friedensaktivistin Rotem Sivan im Gespräch: „Netanjahu benutzt unsere Kinder als Bauern auf einem Schachbrett“

Rotem Sivan-Hoffmanns Söhne dienen in der israelischen Armee. Weil sie den Krieg in Gaza für falsch hält, hat die Ärztin die Protestbewegung „Ima Era“ gegründet. Sie fordert einen sofortigen Waffenstillstand.

Von Tessa Szyszkowitz

Stand:

Rotem Sivan-Hoffmann, Ihre Kinder dienen in der israelischen Armee IDF. Ist das noch ein Krieg, in dem es sich zu kämpfen lohnt?
Mein ältester Sohn hat gerade gestern seinen Reservedienst beendet, er ist bei den Kommandoeinheiten in der Armee. Am 7. Oktober war er regulärer Soldat. Er rief uns um 11 Uhr an und sagte: „Wir drehen die Telefone ab. Geht und spendet Blut.“

Hinterher sagte er, er werde nie wieder in der Lage sein, über die Straße am Rande von Gaza zu fahren. Es war alles voller Leichen.

Mein Sohn und seine Einheit kämpften damals den ganzen Tag in den Kibbuzim Nahal Oz und Be’eri, um die Lage unter Kontrolle zu bringen. Alle Kommandeure seiner Einheit wurden an diesem Tag in Nahal Oz getötet, alle fünf. Das war der Anfang.

Das muss für eine Mutter kaum auszuhalten sein.
Ich dachte immer: Wann werden sie an unsere Tür klopfen und uns sagen, dass er tot ist? Wie werde ich reagieren? Rufe ich zuerst meine Eltern an? Werde ich zuerst seinen Bruder anrufen? Ich hatte schreckliche Angst. Wenn ein Soldat getötet wird, rufen sie dich nicht an. Die Armeevertreter klopfen an deine Tür, um es dir persönlich zu sagen. Sie kommen mit einem Arzt, falls jemand zusammenbricht. Was wir am meisten fürchten, ist dieses Klopfen an der Tür. Ich habe Freunde, die ihre Tür offen halten, damit niemand daran klopfen kann.

Sie haben den Krieg ursprünglich unterstützt, weil Israel sich nach dem 7. Oktober gegen die Hamas verteidigen musste?
Zu Beginn des Krieges bestand die Aufgabe darin, die Geiseln zurückzubringen, die Sicherheit Israels wiederherzustellen. Als mein Sohn später als Reservist in die Armee zurückkehrte, war es schon eine völlig andere Mission. Jetzt ist das Einzige, was die Armee tut, Häuser zu zerstören. Eines nach dem anderen.

Wir beschützen unsere Kinder die ganze Zeit, vom Kindergarten bis zum Schulabschluss. Damit sie nicht hinfallen. Damit sie gut essen. Und hier, innerhalb von einer Minute, nimmt sie die Armee mit und du kannst sie nicht mehr beschützen.

Rotem Sivan-Hoffmann, Soldatenmutter und Friedensaktivistin

Machen Sie sich Sorgen, wie der Krieg Ihren Sohn verändert?
Natürlich. Die Soldaten kehren mit seelischen Narben zurück. Sie kommen mit einem posttraumatischen Belastungssyndrom zurück. Und selbst wenn sie keine PTBS haben, verändert sie der Krieg. Sie gehen als Kinder, junge Männer von 18 Jahren, und innerhalb von wenigen Monaten werden sie erwachsen. Es ist sehr traurig.

Wir beschützen unsere Kinder die ganze Zeit, vom Kindergarten bis zum Schulabschluss. Damit sie nicht hinfallen. Damit sie gut essen. Und hier, innerhalb von einer Minute, nimmt sie die Armee mit und du kannst sie nicht mehr beschützen.

Wo sind Ihre beiden anderen Kinder, sind sie in die Kämpfe verwickelt?
Mein jüngerer Sohn ist bei der Marine, also ist er weniger direkt involviert. Und meine Tochter ist erst 15 Jahre alt.

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Haben Sie jemals daran gedacht, Ihre Kinder nicht in die Armee gehen zu lassen, auch wenn dann im schlimmsten Fall eine Gefängnisstrafe droht?
Ich bin nicht diejenige, die das entscheidet. Ich kann ihnen nicht sagen, was sie tun sollen. Mein Sohn weiß, dass er von der Regierung aus politischen Gründen benutzt wird. Aber er sagte, mir wurde beigebracht, alles zu geben, was ich kann, um dem Land zu helfen, und es ist immer noch ein demokratisches Land. Solange das Gesetz sagt, dass ich gehen muss, werde ich gehen.

Den Wehrdienst zu verweigern, ist außerdem ein zweischneidiges Schwert: Was ist, wenn sich die Situation ändert und wir die Armee brauchen, um uns zu helfen, die Siedler aus dem Westjordanland zu holen? Was ist, wenn sich jemand dann dazu entscheidet, sich dem zu verweigern? Soldaten, die Befehle verweigern, sind eine rote Linie, die man besser nicht überschreitet.

Wenn alle Mütter zusammen auf die Straße gehen und skandieren: ,Genug ist genug’, muss Netanjahu uns zuhören.

Rotem Sivan-Hoffmann, Soldatenmutter und Friedensaktivistin

Darf ein Soldat nicht den Dienst in einem Krieg verweigern, wenn dieser ungerecht ist und er aufgefordert wird, Kriegsverbrechen zu begehen?
Ich habe sehr schwierige Gespräche mit meinem Sohn geführt. Als er seinen Militärdienst beendet hatte, ging er für ein paar Monate ins Ausland und kehrte dann zurück, um zu kämpfen, weil er zum Reservedienst einberufen wurde. Ich sagte ihm: Komm vielleicht nicht zurück? Er war wütend. Er sagte, er würde aufhören, mit mir zu sprechen, wenn ich weiterhin so mit ihm rede. Es ist ein schwieriger Konflikt innerhalb der Familien.

Wir sehen bereits, dass fast 50 Prozent der Reservisten den Dienst verweigern. Sie nennen es anders, sie schützen medizinische oder wirtschaftliche Gründe vor. Ich fürchte aber, die nächsten Generationen werden nicht mehr so wie wir ihre Kinder dazu erziehen, in der Armee zu dienen. Wir kämpften noch um Israels Existenz. Mein Vater, ich und meine Kinder auch.

Aber dieser Krieg in Gaza hat das geändert. Vorher gab es einen ungeschriebenen Vertrag: Wir kämpfen für das Land und der Staat gibt uns dafür Sicherheit. Aber diese Regierung hat diesen Vertrag gebrochen. Sie benutzt das Leben unserer Kinder für ihre politischen und persönlichen Ziele. Netanjahu und seine Verbündeten schwächen damit Israel als Gesellschaft.

Sie haben deshalb im November 2023 die Bewegung „Ima Era“ gegründet. Auf Deutsch: erwachte Mütter.
Genau. Unsere Kinder können nicht den Wehrdienst verweigern, also müssen wir Druck auf die Regierung ausüben. Wenn alle Mütter zusammen auf die Straße gehen und skandieren: „Genug ist genug“, dann muss Netanjahu uns zuhören.

Sie fordern einen sofortigen Waffenstillstand.
Ja. Wir brauchen eine Exitstrategie. Die Politiker weigern sich, über den Tag danach zu sprechen. Was passiert, wenn der Krieg aus ist? Wir müssen eine bessere Zukunft für alle aufbauen. Wir sollten in der Region mit Saudi-Arabien, Ägypten und Jordanien reden – sie alle haben verstanden, welche Gefahr von der Hamas ausgeht.

Die Hamas gefährdet sie vielleicht noch mehr als Israel. Alle diese moderateren Staaten wollen Abkommen mit Israel unterzeichnen. Und wir hatten von Anfang an das Gefühl, dass die israelische Regierung sich weigert, diese Gelegenheit zu nutzen.

Wir sagen unseren Kindern inzwischen, dass sie auf der Straße im Ausland lieber nicht Hebräisch sprechen sollen.

Rotem Sivan-Hoffmann, Soldatenmutter und Friedensaktivistin

Sind Sie besorgt, dass Israelis als Kriegsverbrecher angesehen werden, nachdem sie in diesem Krieg gekämpft haben?
Die Welt wird für Juden immer gefährlicher. Antisemitische Übergriffe gab es schon vor dem Gaza-Krieg. Die Rechtsextremisten in Holland, in Deutschland, in Frankreich werden immer stärker. Es dreht sich nicht immer alles nur um Israel. Aber der Gaza-Krieg macht es nicht besser und palästinensische Organisationen arbeiten hart daran, uns das Gefühl zu geben, nicht erwünscht zu sein. Wir sagen unseren Kindern inzwischen, dass sie auf der Straße im Ausland lieber nicht Hebräisch sprechen sollen.

Eine andere Sache, mit der wir uns vor dem Obersten Gerichtshof befassen, ist die Gefahr von Klagen gegen Soldaten im Ausland. Wir fordern den Obersten Gerichtshof auf, Netanjahu zu zwingen, Minister wie Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir aus dem Amt zu entfernen. Ihre radikalen Aussagen gefährden unsere Kinder, wenn sie ins Ausland fahren. Ben-Gvir vor allem, er hat schon davon gesprochen, ganz Gaza ausradieren zu wollen.

Unsere Kinder löschen jetzt schon alle Fotos aus ihren sozialen Medien, damit sie im Ausland nicht als Soldaten der israelischen Armee erkannt werden. All das könnte vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag enden. Der Oberste Gerichtshof hat allerdings entschieden, dieses Thema derzeit nicht zu diskutieren. Wir versuchen es weiter.

Wir wissen, dass die Kämpfe in Gaza die Geiseln nicht zurückbringen.

Rotem Sivan-Hoffmann, Soldatenmutter und Friedensaktivistin

„Ima Era“ ruft auch dazu auf, dass die ultraorthodoxen Familien ihre Kinder zur Armee schicken müssen. Sie sind bisher wegen ihrer religiösen Studien davon befreit.
Es ist eines unserer Ziele: Es gibt etwa 80.000 orthodoxe Männer, die seit Beginn dieses Krieges der Armee hätten beitreten können. Der Armee fehlen zurzeit bis zu 15.000 Soldaten. Wenn die Orthodoxen zu Beginn des Krieges ausgebildet worden wären, würden sie jetzt schon kämpfen. Unsere Kinder könnten sich zwischen ihren Einsätzen ausruhen.

Netanjahu aber rekrutiert die Religiösen nicht, denn er braucht die Unterstützung der ultraorthodoxen Parteien, damit seine Regierung an der Macht bleibt. Dafür verlängern sie lieber den regulären Militärdienst unserer Kinder.

Die Regierung könnte bald auseinanderbrechen, weil die ultraorthodoxe Partei Vereinigtes Thora-Judentum aus der Koalition ausgetreten ist. Gibt es für die Pläne für einen Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas jetzt eine größere Chance?
Die neuen Waffenstillstandspläne sind sehr problematisch. Beide Seiten planen ja nicht, den Krieg wirklich zu beenden. Zuerst einmal soll jetzt nur die Hälfte der Geiseln freigelassen werden. Und Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir wollen nicht einmal diesen Waffenstillstand.

Was wir fordern, ist ein vollständiger Waffenstillstand und die Beendigung des Krieges jetzt sofort. Netanjahu will immer mehrere Etappen einplanen, damit er mehr Möglichkeiten hat, den Krieg wieder fortzusetzen.

In Gaza zu sein, bringt uns keine Sicherheit. Soldaten werden getötet, nur weil sie dort sitzen. Wir müssen raus aus Gaza.

Rotem Sivan-Hoffmann, Soldatenmutter und Friedensaktivistin

Die Hamas stellt auch eine Bedingung für die Zustimmung zu einem Waffenstillstand: Sie will, dass die israelische Armee aus Gaza abzieht.
Es hat keinen Sinn für Israel, in Gaza zu bleiben. Ich war Offizierin in Gaza, als ich vor 30 Jahren in der Armee war. Und jetzt sind wir wieder da. Wir haben es im Libanon gemacht, aber auch dort hat es nichts gebracht. Wir wissen, dass die Kämpfe in Gaza die Geiseln nicht zurückbringen.

In Gaza zu sein, bringt uns keine Sicherheit. Soldaten werden getötet, nur weil sie dort sitzen. Wir müssen raus aus Gaza. Wenn man gute Abkommen aushandelt – nicht nur mit der Hamas, sondern auch mit Ägypten, Saudi-Arabien und Katar –, werden sie sich darum kümmern müssen, was in Gaza passiert.

Es gibt dazu eine Initiative gemäßigter arabischer Staaten. In Kombination mit einer Art erweitertem Abraham-Abkommen, das Donald Trump vorantreibt, könnte sie die Grundlage für einen umfassenden Friedensplan werden – unter Beteiligung der Palästinenser?
Wir müssen eine Alternative zur Hamas finden. Dazu müssen wir der Palästinensischen Autonomiebehörde mehr Macht geben. Und wir wollen die Abraham-Abkommen verwirklichen. Ägypten zum Beispiel war nie ein Freund Israels.

Mein Vater hat 1973 dort gekämpft, er hat gesagt, er wird Ägypten nicht wieder betreten, selbst wenn wir ein Abkommen haben. Und dieses Versprechen hat er gehalten. Aber: Wir haben den Sinai zurückgegeben und wir haben seit 40 Jahren eine ruhige Grenze zu Ägypten.

Natürlich ist es in Gaza viel schwieriger. Gaza ist kein Staat, es gibt dort keine Regierung, mit der man reden kann. Der Weg aber, die Hamas zu besiegen, besteht darin, eine Koalition der weniger extremistischen Kräfte in der Region aufzubauen.

Wir müssen den Palästinensern eine Zukunft geben, wenn wir eine Zukunft für uns selbst wollen.

Rotem Sivan-Hoffmann, Soldatenmutter und Friedensaktivistin

Aber wie bringen Sie Ihre eigene Regierung dazu, dem zuzustimmen? Derzeit plant sie ein Lager für 600.000 Palästinenser auf den Ruinen von Rafah und will die Bevölkerung von Gaza im Süden zusammendrängen.
Im letzten Monat standen wir immer vor der Tür von Armeechef Eyal Zamir. Wir machen das in Schichten. Er hält inne und spricht mit den Müttern. Wir fordern ihn auf, diesen sinnlosen Krieg zu beenden. Die Mütter sind ein schwieriges Publikum, sie sind wütend, verängstigt und frustriert. Die Diskussionen sind herzzerreißend. Netanjahu benutzt unsere Kinder als Bauern auf einem Schachbrett, um selbst politisch zu überleben.

Die Regierung hat der Hamas all die Jahre Geld gegeben und die Palästinensische Autonomiebehörde absichtlich geschwächt. Smotrich und all die extremistischen Juden planen jetzt, Gaza wiederzubesiedeln. Auch das Judentum wird extremer. Und in der Zwischenzeit sterben die Soldaten in Gaza, die ein Land besetzen, das uns nicht gehört. Vielleicht ist es zu spät, aber wir müssen den Palästinensern eine Zukunft geben, wenn wir eine Zukunft für uns selbst wollen.

Denken Sie auch an die palästinensischen Mütter, die, wie Sie, Angst um ihre Kinder haben?
Immer. Ich denke immer an sie. Mütter haben Angst um die Kinder, egal was passiert. Mein Sohn sagte, als er in Gaza von Haus zu Haus ging, gab es kein einziges Haus ohne Hamas-Aufschriften. Ich weiß nicht, wie viel Unterstützung die Hamas in der Bevölkerung hat. Trotzdem müssen wir den Krieg beenden. Wir müssen aufhören, Zivilisten auf beiden Seiten zu töten, besonders jetzt auf der palästinensischen Seite.

Ich glaube nicht, dass das Töten von Zivilisten irgendjemandem von uns hilft. Es bringt keine Sicherheit in die Region. Es bringt keinen Frieden. Und am Ende werden wir Gaza wieder aufbauen müssen. Vielleicht wird es schwierig sein, mit den Palästinensern einen richtigen Frieden zu schließen. Aber wir brauchen zumindest Ruhe und Sicherheit für die Region.

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