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Friedrich Dürrnmatt in den sechziger Jahren.

© imago images/United Archives

100. Geburtstag von Friedrich Dürrenmatt: Ein Affront in Schwetzingen

Wie unser Autor dem großen Schweizer Dramatiker einmal mitten in der Nacht einen Interviewtermin absagte. Erinnerung an eine enttäuschte Theater-Liebe.

Du versetzt als Kritiker einen der berühmtesten Dichter und Denker der Gegenwart, verweigerst dich in der Nacht vor dem Termin einem monatelang vorbereiteten, fest verabredeten Interview mit dem Künstler? Das klingt nach einem schlechten Scherz. Aber es geschah im Juni 1988 bei den Schwetzinger Festspielen.

Die vor allem für ihren Spargel bekannte Kleinstadt nahe Heidelberg und Mannheim ziert ein Barockschloss mit hübschem Park und dem gut 500 Zuschauer fassenden, ältesten erhaltenen Rangtheater der Welt. Heimstatt auch der jährlichen Festspiele, die wie in Salzburg in etwas kleinerem Stil Musik und Theater verbinden.

Das neue Stück „Achterloo“ wirkte einigermaßen haarsträubend

Damals war freilich der Großdramatiker Friedrich Dürrenmatt zu Gast – und sollte als Autor und Regisseur höchstselbst „Achterloo IV“ inszenieren, als „Welturaufführung“. Eigentlich hatte „Achterloo“ schon fünf Jahre zuvor in Zürich Premiere gehabt. Doch Dürrenmatt arbeitete immer weiter an diesem letzten Stück aus seinem von globalen Erfolgen wie „Besuch der alten Dame“, „Die Physiker“ oder „Play Strindberg“ gekrönten Theaterkosmos.

Und wie schon in den „Physikern“ sollte „Achterloo“ Dürrenmatts Diktum beglaubigen, dass der Welt der Atombombe nur noch die Groteske beizukommen vermöchte. Wie „Die Physiker“ spielt auch „Achterloo“ in einem Irrenhaus, der Titel meint eine Anstalt unweit von Waterloo.

Darin treten als Patienten Napoleon, Marx, der Ketzer Jan Hus, Benjamin Franklin oder Robespierre auf. Aber es geht aktueller noch um den Staatsstreich des polnischen Generals Jaruzelski und die Niederschlagung der Gewerkschaft Solidarność. Weshalb Napoleon auch zu Jaruzelski wird, Jan Hus zum Gewerkschaftsführer Lech Wałęsa  und Marx zerfällt in drei Gestalten, er hat eine „haarsträubende Identitätskrise“.

Auch „Achterloo“ wirkte einigermaßen haarsträubend. Aber ich war neugierig, mit Dürrenmatt in einem Gespräch für die Zeitschrift „Theater heute“ über seine Idee der Relativität von Zeiten und Räumen, Personen und Geschichte(n) reden zu können. Vielleicht auch über die „Identitätskrise“ bestimmter Spielarten von Dramatik. Siehe Brecht, mit dem sich der junge Dürrenmatt sehr interessant ausgetauscht hatte.

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Wir waren in seinem Hotel gegenüber dem Schwetzinger Schloss am Morgen nach der „Achterloo IV“-Premiere zum Frühstück mit laufendem Tonband verabredet. Doch die vom Publikum bejubelte, weil hoch prominent besetzte Aufführung fand ich (wie auch andere Kritiker): leider grauenhaft. Helmut Lohner (als Napoleon-Jaruzelski), Nikolaus Paryla, Isabel Karajan oder auch Dürrenmatts mitwirkende Gattin Charlotte Kerr schienen wie von jeder Regie verlassen. Chargierend, steif oder grob polternd und pathetisch, wo allenfalls leise Ironie angebracht gewesen wäre. Historie als Kasperei.

Weil ich den klugen, in seinen Künsten (er war auch Zeichner) so unendlich begabten Schweizer Weltautor immer bewundert habe, war es fruchtbar enttäuschte Liebe. Aber wie darüber mit ihm reden? Diese Premiere war ja kaum auszuklammern. Also schob ich unter Dürrenmatts Hotelzimmertür (ich wohnte im Stock über seiner Suite) in derselben Nacht einen Brief hindurch, in dem ich bat, unser Gespräch auf einen anderen Ort und Termin zu verschieben.

Natürlich hat Dürrenmatt das Manöver durchschaut, und seine Frau Charlotte soll empört gewesen sein. Es war ein Affront, und letztlich ein Fehler. Zweieinhalb Jahre später ist Dürrenmatt gestorben, und zu unserem Gespräch ist es nie mehr gekommen.

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