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Was ist das Geheimnis eines guten Cafés? Im Sur war es zu spüren: Es ist die Verbindung von Ruhe und Gesellschaft.

©  Café Sur/Esther Kaiser

Nachruf zu Lebzeiten: Abschied vom Café Sur in Schöneberg

Es gibt Orte, die sind für Geistesmenschen Heimatersatz. Verschwinden sie, verändert sich mehr als nur eine Straßenecke.

Das Café Sur in der Schöneberger Akazienstraße war eine Institution, im Sommer wie im Winter. Ein Mittelding zwischen Café, Bar und Restaurant mit kleinen Speisen – und vielleicht auch deshalb als Treffpunkt und Rückzugsort ein Ort für viele.

Manchmal war es auch eine kleine Bühne für Jazz und Verwandtes. Seit diesem Frühjahr haben die bisherigen Betreiber, der aus Äthiopien stammende Vik Kassa, der auch regelmäßig hinter dem Tresen stand, die Jazzsängerin Esther Kaiser und der Möbeldesigner Stefan Leo das Café Sur an neue Pächter übergeben. Mit ihnen hat sich nicht nur die Inneneinrichtung, sondern der ganze Charakter verändert. Die Schriftstellerin Nora Bossong, Stammgast im alten Café Sur, ist nicht die einzige mit Entzugserscheinungen.

Für manche mag es einfach eine Straßenecke gewesen sein, von denen es in Berlin viele gibt. Eine Kreuzung, eine Ampel, ein paar Bäume, und vor einem Café stehen Tische so weit auf dem Fußweg, wie es das Ordnungsamt eben gestattet; mit Gästen, die vielleicht nur zufällig hier gelandet sind, oder weil sie schon seit Jahren kommen, morgens einen Kaffee und ein Croissant nehmen oder abends Rosé und Salat, und wenn es leicht regnet oder die Sonne zu stark scheint, kurbelt einer der Kellner die Markise heraus. Das ist alles; nichts, wie es scheint, von großer Bedeutung.

Ein stiller Abschied

Für mich war das Café Sur einer der wenigen Orte, an denen ich mich nicht nur wohlfühlte, sondern an denen ich wirklich zu Hause war, und das bedeutet vielleicht umso mehr, wenn man eher zu den Getriebenen gehört, die in Texten eine Heimat haben, aber an kaum einem Ort.

Wenn ein solcher Ort dann einfach verschwindet, verändert sich nicht nur eine Ecke der Stadt, es ändert sich der Rhythmus des Tages, der Woche. Es ist einer der stillen Abschiede, denn es ist ja kein Mensch gestorben, kein System gestürzt.

Es ist nur etwas verschwunden, wohin man gehört hat, an manchen Tagen einfach nur schweigend, in den eigenen Dingen versunken, und dann wieder lebhaft und bei den anderen, wie man in eine langjährige, vertraute Freundschaft hineingehört, in der man sich nicht mehr erklären muss.

Gelassenes Aufgehobensein

Was ist das Geheimnis der guten Cafés? Es ist die Verbindung von Ruhe und Gesellschaft, und das erklärt, warum gerade Menschen wie ich, die einer tendenziell vereinsamenden Tätigkeit nachgehen, nämlich Bücher schreiben, sich zu diesen Orten hingezogen fühlen – der ganze Tag wäre eine Entscheidung zwischen dem Alleinsein und der Ablenkung, gäbe es nicht diesen Ort des gelassenen Aufgehobenseins.

Fast jeden Abend habe ich durch die Fensterfront auf die Ampel gesehen, die parkenden Wagen, die Papierhandlung schräg gegenüber, die ausgestellte Mode in der Boutique auf der anderen Straßenseite.

Oft blickte ich geistesabwesend hin, wenn ich nicht weiterkam mit einem Text, dann wieder auf der Suche nach etwas, einer Bewegung, einem Detail, das mir im Text zu fehlen schien. Und über all die Jahre haben sich mir diese Bilder so fest eingeprägt wie vielleicht sonst nur jene der Kindheit, die auch dann, wenn man sie nicht erwartet, plötzlich vor einem auftauchen: die Farben der Ölflaschen, die im oberen Regal über der Bar stehen, die Kissenberge, die auf der Bank liegen, der hohe, mit Mosaiksteinen beklebte Tisch mit den Zeitungen.

Mein Tisch!

Das Kreuzworträtsel im „Tagesspiegel“ war um 19 Uhr immer schon ausgefüllt, und wenn „Le Monde“ fehlte, wusste ich genau, wer sie hatte. Die Stühle, einige mit hartem Holzsitz, andere gepolstert, habe ich genauer vor mir als die Stühle in meiner Wohnung, die Stammkunden mit Weißwein an der Fensterfront kenne ich besser als meine Nachbarn, und wenn Gerold mit Hefe und Zeitung an dem kleinen Einzeltisch zwischen Weinregal und Heizung saß, stand er auf, sobald ich den Laden betrat: Das sei doch mein Tisch!

Die Zigarette nach Feierabend, wenn der Laden geschlossen war und ich noch mit der Belegschaft an der Bar saß. So haben wir miteinander die schlechten Abende durchgestanden, an denen irgendjemand von uns durch den Wind war, die guten Abende, an denen wir kein Ende fanden, wir saßen in einem wackligen Bus in Nairobi, in der Bibliothek mit Kant und am Abgrund eines längst vergessenen Liebeskummers, im Wissen darum, dass auch die größte Liebe niemals diesen Ort aufwiegen kann, an dem wir alle zusammen durch den Raum getanzt sind.

Manchmal sogar tatsächlich, sonst mit einem Blick, der all das in sich hielt, und oft genug haben wir uns auch einfach nur zugenickt, einander in Ruhe gelassen, die ewig gleiche Musik gehört, ich kann sie bis heute im Schlaf mitsummen.

Geruch des Glasreinigers

Manches, nicht nur die Musik, hat mitunter genervt, doch wie jedes wirkliche Zuhause fehlt alles, sobald es weg ist. Der Geruch des Glasreinigers, mit dem die Vitrine geputzt wurde, das leichte Schaukeln eines Lampenschirms über dem Tresen, den beim Aufstellen der Barhocker ein Stuhlbein streifte; vermutlich war ich die Ungeschickte, die noch schnell hatte helfen wollen. Das Geräusch, wenn die Bank von draußen reingeholt wurde, dann flappte noch der rote Teppich hinterher und nacheinander gingen die Lichter aus.

(Nora Bossong, 1982 in Bremen geboren, lebt als Schriftstellerin in Berlin. Im September erscheint bei Suhrkamp ihr Roman „Schutzzone“.)

Gelassenes Aufgehobensein.
Gelassenes Aufgehobensein.

© Esther Kaiser/Cafe Sur

Nora Bossong

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