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Der französische Pianist Alexandre Kantorow.

© Jean-Baptiste Millot

Alexandre Kantorow im Pierre Boulez Saal : Feuer, ohne zu verbrennen

Der französische Pianist Alexandre Kantorow gibt ein überzeugendes Konzert im Boulez Saal, bei dem er unter anderem Brahms und Schubert interpretiert.

Von Keno-David Schüler

Er ist kein unbeschriebenes Blatt, der junge Franzose, der 2019 den Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb gewann. Zu Gast im Boulez Saal war er schon im Juni 2021, jetzt ist Alexandre Kantorow zurück mit Werken von Johannes Brahms, Franz Schubert und Schubert/Liszt. Außerdem werden zwei weitere Konzerte mit Kammermusik von Violinsonate bis Klavierquintett mit ihm zu erleben sein.

Der 25-jährige eröffnet mit dem Opus 1 des 20-jährigen Brahms, der die Uraufführung seiner Klaviersonate in C-Dur 1853 selbst im Leipziger Gewandhaus gespielt hatte. Ob so explosiv wie Kantorow: schwer vorstellbar. Der nimmt sich nicht zurück, geht aufs Ganze. Vollkommen scheint er über den Flügel zu verfügen, kann alles umsetzen, was er will – und will so einiges.

Lustvoll stürzt sich Kantorow in den vollgriffigen Klaviersatz, spricht Brahms’ Musiksprache fließend und con fuoco. Seine Virtuosität wirkt natürlich, die durchweg schnellen Tempi bleiben immer locker, elastisch. Ein feroce (wild) oder strepitoso (lärmend), wie im Scherzo der Sonate, wird wörtlich genommen. Und so soll es sein: trotz energisch virtuosen Zugriffs bleiben exzentrische Entstellungen des Notentextes aus.

Beachtlich, wie dennoch selbst komplexe Klangschichtungen differenziert und kontrapunktische Linien vorbildlich geführt werden. Auch wenn die lyrischen Passagen im zweiten Satz eher episodisch geraten, gleichermaßen die Seitengedanken des Finalsatzes, folgt man ihm gern. Kantorow hat Kraft, kommt aber ohne Kraftmeierei aus – unter seinen Händen werden die symphonischen Dimensionen der Sonate erfahrbar.

Die sind gleichermaßen in Schuberts Wandererfantasie von 1828 angelegt, die die zweite Säule des mächtigen C-Dur Rahmens des Programms bildet. Das wohl expressivste Werk Schuberts ist ein janusköpfiger Koloss, der nicht nur als Fantasie, sondern auch als Sonate verstanden werden kann. Grundlage lieferte das Lied „Der Wanderer“ aus dem Jahr 1816. Letzteres ist heute in einer Liszt’schen Transkription mit anderen Bearbeitungen der Fantasie vorangestellt. Nicht zuletzt durch Übertragungen wie diese hatte Franz Liszt die Musik Schuberts erst europaweit bekannt gemacht.

Wie passend lisztisch, mit zerzaustem Haar, in Boots, tritt auch Kantorow auf. War man schon besorgt, dass der hagere Mann nach der Brahmssonate vom Stuhl fallen würde, schüttelt er peu à peu scheinbar unbegrenzte Reserven aus dem Ärmel. Das Erstaunliche dabei: das volle Risiko, das sich zumeist auch auszahlt.

Furchtlos fliegen die berüchtigten Sprungstellen im Übergang vom Presto zum Finale der Wandererfantasie vorbei. Das Fugato des Schlusssatzes mündet in effektvoller Zuspitzung: die atemberaubende Kontrolle der piano-Passagen, dem retardierenden Moment kurz vor Ende, verrät überragende Meisterschaft. Kantorow entfacht einen musikalischen Flächenbrand, ohne sich dabei selbst zu verbrennen.

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