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 Die Altstadt von Baku

© picture alliance / dpa

Alexander Goldsteins " Denk an Famagusta": Alles mitbringen, nichts vergessen

Von Aserbeidschan nach Zypern: Alexander Goldsteins Migrationsepos „Denk an Famagusta“ ist ein Plädoyer für das Nicht-Vergessen und die bereichernde Vielfalt der Gesellschaft.

Das Gelobte Land gleicht einem Ghetto. Nicht mal nach Jerusalem oder Tel Aviv haben es die Auswanderer aus der einstigen, gerade untergegangenen Sowjetunion geschafft, bloß in die Provinzhauptstadt Lod, „nur hierher, in die von Arabern umstellte, dreckige Vorstadt mit den billigen Mieten“. 10 000, 12 000 Juden, Ukrainer, Russen „aus denselben geschändeten, niedergedrückten Gegenden“ sind gekommen, „arme Teufel, verwegene Abgebrannte“. Ihre Träume waren groß, nun sind sie hier „hängengeblieben unter Palmen“.

Natürlich ist es eine Illusion zu glauben, man könne an einem anderen Ort ein neues Leben beginnen. Schließlich haben diese Emigranten ihr altes Leben immer dabei, „die Armut, die Bedrängnis, den schiefmäuligen Pöbel in Trainingshosen, die mit drei Akkorden begleiteten Knastlieder, die Liebe zu fetten Vorspeisen“. Die Erinnerungen wollen sie eigentlich loswerden, aber sie sind auch ihr größter Schatz. „Alles mitgebracht, nichts vergessen“, schreibt Alexander Goldstein, und in diesen vier Wörtern steckt schon fast seine ganze Poetologie.

Der Erinnerungsvirtuose beschreibt in seinem 500-seitigen Romanepos „Denk an Famagusta“, das im russischen Original bereits 2004 erschienen ist, nicht nur seinen eigenen Lebensweg, der für den Sohn eines sowjetischen Schriftstellers im heute estländischen Tallinn begann, wo er 1957 geboren wurde. Über die aserbaidschanische Hauptstadt Baku, in der er fast dreißig Jahre verbrachte, führte er bis nach Israel, wo er 2006 starb.

Ein literarisches Gruppenporträt

Alexander Goldstein hat in seinem meisterhaften Debütroman auch die Geschichten vieler Figuren – realer wie fiktiver – festgehalten, die ihm auf dem Weg durch die Orte, Systeme und Zeiten begegnet sind. So ist sein Buch zu einer Art literarischem Gruppenporträt über die Mühseligen und Beladenen unserer Tage geworden. Menschen – meist Juden – auf Wanderschaft.

Goldstein erzählt abschweifend und wild, auch in der Gegenwart erkennt er immer wieder das Gewesene. Die Scud-Raketen, mit denen Saddam Hussein während des zweiten Golfkriegs Israels beschießt, nennt er „Raketen aus Babylon“. Die Arbeit an seinem Buch, das ein Plädoyer für das Nicht-Vergessen ist, hat der russisch-jüdische Autor ausgerechnet in Lod begonnen, das nach Lot benannt ist, dem biblischen Gerechten aus dem Sündenbabel Sodom. Als seine Frau, gegen Gottes Befehl, sich auf der Flucht nach der brennenden Stadt umdreht, erstarrt sie bekanntlich zur Salzsäule.

Doch Goldstein kann das Sich-Umdrehen nicht lassen, der Blick in Gegenrichtung zum Zeitstrahl ist seine Lieblingsperspektive. Rasant springt der Roman zwischen den Zeiten, Figuren und Orten hin und her. Weil dabei auch das Erzähler-Ich wechseln kann, ist der mal märchenhaft, mal lebensprall, mal altmodisch gelehrt wirkende Text kein einfacher Stoff. Belohnt wird der Leser mit der enzyklopädisch genauen Schilderung einer gerade untergegangenen Welt.

Goldstein streut Kurzessays in die Erzählung

Bei einer Busfahrt durch Baku strömt die Stadt auf den Schriftsteller ein wie im neusachlichen Schlagzeilen-, Parolen und Gedankenwirbel von „Berlin Alexanderplatz“. Eindrücke und Assoziationen verdichten sich auf zwei, drei Seiten zu einem kleinen Welttheater. „Der Dichterchor in deinem Kopf. Das Radio aus der Dispatcherzentrale, wo die Spielstein klappern, die Fahrer trinken Tee, sind im Fußballfieber. Neftjannik, die Mannschaft der Erdölarbeiter, ist wieder in der Oberliga.“ Eine große Gleichzeitigkeit, zu der noch Anmerkungen zu Papst Gregorius mit seiner vogelgleichen Gesangsstimme, zur Männermode der iranischen Ajatollah-Revolution und zu Thomas Manns spätem Roman „Der Erwählte“. Eine heikle, nicht einfach zu beschaffende Lektüre, denn auch wegen seiner Homosexualität gilt der Nobelpreisträger in der Sowjetunion als dekadent.

Goldstein streut immer wieder Kurzessays in seine Erzählung ein, über „Freiheit als neue Sklaverei“ etwa oder das Eintreten Europas für die Palästinenser als verdeckten Angriff auf Israel: „Ihr habt uns wieder einmal satt“. Manchmal erzählt er aber auch einfach nur einen antikommunistischen Witz. Kommt eine Abordnung der Volkskommissare zu Lenins Mumie im Moskauer Mausoleum und fragt: „Die Revolution ist an einem toten Punkt. Was sollen wir tun, Vater?“ Die Mumie antwortet: „Warten. Warten. Warten. Aber was von uns übrigbleibt, hat damit nichts zu tun.“ Die Zeitung „Nasreddin“, bei der Goldstein als Korrektor arbeitete, wurde in der vermeintlichen Tauwetterphase nach „Breschnews Himmelfahrt“ allerdings für eine harmlosere Pointe dichtgemacht. Sie hatte auf ihrem Titelblatt eine Erdöl-Förder-Kuh gezeigt, die von einer Kreml-Meute gemolken wird.

Mit Ostalgie nichts am Hut

Sätze, heißt es einmal, sollten „überdreht sein wie eine Telefonschnur“. Das Überbordende dieser Prosa versteht sich auch als Gegenentwurf zu den „beamteten Schriftstellern“ der Sowjetzeit mit ihrer „Direktheit der Sprache“. Eine irische Spelunke, in der die Zeitungsleute von Goldsteins Roman genauso wie die Prostituierten verkehren, heißt „Molly Bloom“, eine Anspielung auf den „Ulysses“ und seinen Stream of consciousness. „Denk an Famagusta“ ist ein großer, mitunter über die Ufer tretender Strom von Geschichten, Gedanken und Geistesblitzen.

Mit Ostalgie hat Goldstein nichts am Hut, ausführlich erzählt er von den Verbrechen des Sowjetregimes. Trotzdem bleibt der Parapet, ein Platz mit Springbrunnen und Palmen in Baku, auch nach der Ausreise ein Sehnsuchtsort. „Mit Kram vollgestellte Bretterbuden“, schreibt er, „zwei eiserne Hochspannungskästen, kahle Stellen, Bänke, Gebüsch, Pingpong-Tische, Adrenalinsturm, musisch und sexuell.“ Homosexuelle treffen sich dort, Prostituierte warten auf Kunden, in den Kaschemmen läuft indische Filmmusik, ein buntes Völkergemisch aus Azeris, Armeniern und Georgiern vereint sich friedlich im Vergnügen. Ein Utopia nach Sonnenuntergang.

„Denk an Famagusta“, sagen die zypriotischen Griechen, seit die Türken fast die Hälfte der Insel und auch die Hafenstadt Famagusta erobert haben. Ein Appell, nichts zu vergessen. Gegen Ende des Romans fliegt Goldstein zu einem Kurzurlaub nach Famagusta. Er hofft, endlich einmal keine Russen zu treffen, und beginnt eine Einnachtaffäre ausgerechnet mit einer russischen Kellnerin. Ideen von einer „ethischen Reinheit“, wie sie gerade wieder in Europa kursieren, sind nicht bloß absurd. Eine Gesellschaft, die Vielfalt ablehnt – so lautet die Botschaft dieses labyrinthischen Buches –, verzichtet auch auf ihren größten Reichtum.

Alexander Goldstein: Denk an Famagusta. Roman. Aus dem Russischen von Regine Kühn. Matthes & Seitz, Berlin 2016. 538 S., 30 €.

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