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Kultur: Alles vergänglich

Im Tollhaus: Forced Entertainment an der Berliner Volksbühne

Wenn das Rauschen zu viel wird, ist da immer noch das kleine Apple-Notebook auf dem Resopaltisch, in dessen vor sich hin leuchtenden Apfel man sich versenken kann, während man über Dinge wie „Mobilität“, „Eiszeit“, „Weltgeschichte“ und so weiter sinniert. Drei Meter weiter links steht eine Frau auf sehr hohen Absätzen, hält ihr Trägerkleid gerafft und wispert etwas von den „dunklen Jahren“ ins Mikrofon. Um sie herum hüpft ein Mann im Fellkostüm, während eine andere Fellfrau Papierschnipsel von einem Leiterwagen rieseln lässt. Ein Mann hat Spaß daran, die Windmaschine spazieren zu führen, andere ruhen sich von der Bühnentollerei auf einem durchgelegen Sofa aus. Ein Monitor zeigt Bilder von Landschaften und Tellern und Staubsaugern. Musik geht an und wieder aus, und als man das nächste Mal hinschaut, sind alle Schauspielerstirne von kleinen Schweißperlen überzogen. Nur der kleine, angebissene Apple-Apfel lächelt still und auch etwas stolz: Doll, scheint er zu denken, was man auf mir kleiner Kiste für große Theaterprojekte ersinnen kann.

„Forced Entertainment“ um den Autor und Regisseur Tim Etchells ist eine der erfolgreichsten Performance-Gruppen aus England, die auf ihrer schon Jahre währenden Festival-Tour um die Welt regelmäßig auch in Berlin Station macht, wo in der Volksbühne nun ihr neustes Stück „The World in Pictures“ uraufgeführt wurde. Nach eigenen Aussagen verfolgt das Stück „die Erkundung des Theaters als einzigartigen Raum des Zusammentreffens von Spieler und Publikum“.

Konkret heißt das: Spielszenen, in denen die Menschheitsgeschichte von der Steinzeit bis zum 11. September nacherzählt wird, wechseln mit Szenen ab, in denen ein junger Mann (Jerry!) von der Rampe das Publikum direkt anspricht. Ziel ist wohl, die Zeitgeschichte mit dem individuellen Zeitempfinden des Zuschauers kurzzuschließen, um einen Bewusstseinsmoment von Vergänglichkeit zu erzeugen. Die Idee ist zwar nicht neu, aber immer noch faszinierend. Dass die Umsetzung, trotz einiger melancholischer Papierschneebilder, nicht gelingt, liegt vor allem an dem selbstverliebten Wohngemeinschafts-Arbeitscharakter der Gruppe, die schon seit 1984 existiert.

Während sich die Frau am Mikro durch die Jahrhunderte haucht, stolpern die Fellschauspieler nur illustrativ hinterher. Sie tanzen, lassen sich wie im Stummfilm theatralisch fallen oder deuten sehr lautintensiv archaische Geschlechterverhältnisse an, wobei die Darbietungen nicht über den Charme einer Probenimprovisation hinauskommen. Das Wichtigste kommt zum Schluss, als Jerry das Publikum nicht nur in die Realität zurückholt, sondern die Geschichte in die Zukunft weiterspinnt: „In einem Monat werden Sie sich vielleicht an nichts mehr von heute erinnern und in fünf Jahren, wer weiß, sind einige von Ihnen vielleicht schon tot.“

Doch bevor sich das Unheimliche dieses Moments richtig entfalten kann, kommt ein Fellmann gestapft und macht einen läppischen Wohngemeinschaftswitz: „Jerry, du bist mehr so der Das-Glas-ist-halb-leer-Typ, was?“ Wer die Vergänglichkeit auf die Bühne ruft, sollte das Unbehagliche ihres Anblicks auch aushalten können.

Volksbühne am Rosa-Luxemburg–Platz: Forced Entertainment heute noch einmal mit „Exquisite Pain“, 20 Uhr

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