zum Hauptinhalt

Kultur: Als versänke Venedig im Meer

Callas? Netrebko? Der Klassikmarkt ist tot, sagt Norman Lebrecht. Und das gilt auch für Gustav Mahlers Musik

Der streitbare britische Musikjournalist Norman Lebrecht („Der Mythos vom Maestro“) diagnostiziert in seinem neuen Buch nichts Geringeres als das Sterben der klassischen Schallplattenaufnahme: Die Produktionszahlen tendierten gegen null, selbst potente Labels hangelten sich nur mehr von Fusion zu Fusion und hielten sich allenfalls durch halbseidene PR-Aktivitäten noch über Wasser. Mit viel Insiderwitz und -kenntnis erzählt Lebrecht Geschichten aus den großen Tagen des Tonträgergeschäfts, von Caruso bis Karajan, von Legge bis Wilford – und charakterisiert auf ebenso elegante wie subjektive Weise die 100 bedeutendsten und die 20 überflüssigsten Aufnahmen des Katalogs. Der Klassikmarkt als Wirtschaftszweig, der seinen Nutznießern einmal beides zu bescheren imstande war: Kultur und Kommerz, Gedächtnis und Gewinn. Sein Niedergang, so Lebrecht, „stellt einen immensen kulturellen Verlust dar, vergleichbar dem Versinken Venedigs im Meer“. Norman Lebrechts „Ausgespielt. Aufstieg und Fall der Klassikindustrie“ ist bei Schott Music erschienen, hat 276 Seiten und kostet 19,95 €. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags und aus aktuellem Anlass drucken wir im Folgenden einen Ausschnitt aus dem Kapitel „Wahnsinn“: die schlechtesten Mahler-Platten aller Zeiten. Tsp

Was ist eine schlechte Aufnahme? Nicht etwa eine, die von schlechten Musikern gemacht oder stümperhaft eingespielt wurde. Solche Aufnahmen, wenngleich weit verbreitet, sind nicht der Kritik wert. Die missratenen Schallplatten, die wir in Ehren halten, sind diejenigen, die in der besten Absicht produziert und von erstklassigen Künstlern eingespielt wurden und die dennoch in dem einen oder anderen Punkt so weit vom angestrebten Ziel entfernt sind, dass sie eine Karikatur von einer Aufnahme darstellen, einen Hohlspiegel, in dem alles verzerrt ist. Jeder Plattensammler hat einen Schrank voll solch grauenvoller Exemplare. Ich habe 20 davon aus der untersten Schublade herausgeholt, Platten, die (...) doch wegen ihrer törichten Eigenwilligkeit als unverwechselbares Anschauungsmaterial überdauern. Meine Auswahl zeigt die Fehler auf, die passieren können, wenn man nach den Sternen greift.

Gustav Mahler etwa wurde trotz seiner späten Popularität zum Opfer einer größeren Zahl von schrecklichen Aufnahmen als jeder andere Symphoniker. Es ist ein Leichtes, einen ganzen Zyklus von Katastrophen zusammenzustellen. Da ist zum Beispiel die erste Symphonie unter Ozawa (oder Mehta oder Rattle), die den Blumine-Satz beibehält, den Mahler bewusst wegließ, und die Zweite unter Sinopoli mit einer Auferstehung, die nicht stattfindet. Die Dritte wurde durch den falschen Typ von Mezzosopran zunichte gemacht (Leinsdorf, Järvi), während sich die Vierte unter Bernstein mit hoher Knabenstimme und unter Walter mit der stimmlich ungeübten Desi Halban zaghaft von der Vorgabe des Komponisten entfernte. Kondraschins Moskauer Hörner heulen klanglich unsauber bei der Eröffnungsfanfare der Fünften, einer Symphonie, die Scherchen um mehrere Minuten kürzte, um ein seltsamerweise verlängertes Adagietto unterzubringen. Horensteins Sechste wird von der Philharmonie Stockholm schlecht gespielt.

Die Siebte ist unter Pierre Boulez von jeglicher Menschlichkeit bereinigt. Beinahe jeder Achten, mit Ausnahme der von Tennstedt und Solti, mangelt es an klanglichem Realitätssinn, und Karajan behandelt die Neunte wie ein Konzert für Orchester, ohne eine Spur von Todesangst. In Salonens Interpretation von „Das Lied von der Erde“ erscheint Plácido Domingo auf bizarre Art und Weise und ihm gegenüber ein ebenso unpassender schwedischer Bariton. Hinsichtlich der Zehnten gibt es im Gegensatz zur maßgebenden Version von Deryck Cooke vier spekulative Vervollständigungen, die von Slatkin, Barschai, Sieghart, Olson und anderen dirigiert wurden. Jede einzelne dieser Aufnahmen könnte als die schlechteste Mahler-Interpretation aller Zeiten herhalten, doch am lebhaftesten im Gedächtnis geblieben ist die Aufnahme der Auferstehungssymphonie, der ich im Januar 1983 in Wien beiwohnte, wo Lorin Maazel als Operndirektor in Mahlers Fußstapfen getreten war. Schnell zerstritt er sich mit der halben Stadt, denn während er für „jeden Abend eine Galavorstellung“ versprach, war vieles, was er anbot, unkonzentriert und unvorbereitet und wurde nur von der Klarheit seines Schlags zusammengehalten.

Die Wiener Philharmoniker spielten mit zusammengebissenen Zähnen, hinter der Fassade ihrer kratzfüßigen Höflichkeit jedoch intrigierten sie gegen Maazel. Die zwei übergroßen Solistinnen der Auferstehungssymphonie entwickelten eine unmittelbare Gleichgültigkeit füreinander und tauschten während der gesamten Aufnahme keinen einzigen Blick aus. Maazel setzte den englischen Produzenten David Mottley an die Luft, der Jahre später seinen Freunden erzählte, er habe immer noch Albträume wegen des stechenden Blicks des Dirigenten.

An einem winterlichen Samstagabend herrschte im Musikvereinssaal vor Unzufriedenheit schneidende Kälte. Die Wirkung einer zerstörten Atmosphäre auf ein Kunstwerk, das Erlösung verspricht, ist unbeschreiblich subversiv. Wie süß auch immer die Geigen singen oder die Blasinstrumente säuseln, fehlende Menschlichkeit kann man nicht vortäuschen. Die Trübseligkeit dieser Aufführung war unglaublich, und als die großen Mädchen aufstanden, um so schlecht wie sie nur konnten loszuschmettern, spürte man, dass jeder im Orchester und im Chor wünschte, lieber als Buchhalter oder Installateur seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Wenn es jemals eine Aufnahme gab, an der niemand beteiligt sein wollte, dann ist es diese. (Jessye Norman, Eva Marton, Wiener Philharmoniker, Lorin Maazel, CBS)

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false