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Literatur: An der Unfallstelle

Erst gar nicht versuchen, das Unbegreifliche zu begreifen. Trauer und Poesie: Ulla Lenzes Roman „Der kleine Rest des Todes“.

Alles ist klar, auch wenn erst mal vieles unklar bleibt. Ariane, eine junge Frau, 33 Jahre alt, Doktorandin, hatte sich in einem buddhistischen Kloster in Indien aufgehalten und war erst vor wenigen Tagen nach Deutschland zurückgekehrt. Plötzlich bekommt sie eine Nachricht über ihren Vater, „etwas, über das man in der Zeitung lesen kann. Ein tragischer Fall unter anderen tragischen Fällen.“ Ein Flugzeugabsturz. Der Vater ist tot. So viel ist sicher. Unklar bleibt die Ursache: ein Unfall? Ein Herzinfarkt? Oder sogar Selbstmord? Sicher ist nun auch, wenn auch unausgesprochen, dass Ariane in den folgenden Wochen immer wieder mit massiven Schuldgefühlen zu kämpfen hat. Die junge Frau, das zeigt ihr bisheriges Leben, hat ohnehin viel mit sich selbst zu tun. Jetzt scheint sie vollends überfordert.

Bereits der erste Satz, der erste, kurze Abschnitt des Buches zeigt die ganze Verwirrung, von der sie gepackt worden ist: „Wie uns die Nachmittagssonne im Nacken saß, als wir durch die Häuserschlucht gingen, unseren wegspringenden Schatten hinterher. Leander legte seine Hand in meinen Rücken, ich suchte den Schlüssel. Mein Vater kam am Flugplatz an, ging zur Luftaufsicht im Tower. Dann zum Hangar, umrundete die kleine Maschine einmal zur Kontrolle und stieg ein. Leander setzte sich nicht, stand herum, ließ sich küssen.“

In diesem kurzen Absatz sind völlig verschiedene Abläufe zu unterschiedlichen Zeiten zusammengefügt. Gedanken, die der jungen Frau, wie man gleich darauf erfährt, aber erst „fünf Tage später“ durch den Kopf gehen. Erinnerungen an den Vater, dann, nachdem sie von seinem Tod erfahren und einen alten Freund angerufen hatte, Erinnerungen an ihren vergeblichen Versuch, bei diesem Leander Trost, Halt und Unterstützung zu finden. Oder bei Arndt, dem Ex-Geliebten, mit dem sie Schluss gemacht hatte, um in Indien, in einem buddhistischen Kloster, ihre Dissertation über das Problem der Negation bei Hegel, Adorno und dem Zen-Buddhismus voranzubringen. Bilder, Erinnerungen, Albträume und gegenwärtiges Geschehen werden miteinander verknüpft.

Die Grenzen von Zeit und Raum sind in einer alles umgreifenden Gegenwart aufgehoben. Im Holzsarg verbirgt sich ein Zinksarg, wegen des Kerosins, heißt es. Sie fragt sich, was das bedeutet „und verlor die Frage an die Angst“. Die Intention, die sie in ihrer Doktorarbeit verfolgte, nämlich auf eine leicht verständliche Weise „die Vorteile der Ichlosigkeit sichtbar“ zu machen, realisiert sich jetzt, in den ersten Tagen und Wochen nach dem Tod des Vaters, unversehens in ihrem Leben. „Ja, wenn sich alles umstülpt im Leben, und ich finde, der Tod tut das, nur dass man ihn einfügt ins Leben wie einen Satzteil, als gehörte er zur ganzen Geschichte, aber das tut er nicht.“

Anders als in den diversen Trauer-Litaneien, in denen sich ein Georg Diez von seiner Mutter, eine Ulla Berkéwicz von Siegfried Unseld oder ein Christoph Schlingensief von der Welt überhaupt verabschiedet, versucht Ulla Lenze gar nicht erst, das Unbegreifliche zu begreifen. Sie beschreibt vielmehr, und darum auch so wirkungsvoll, die Folgen, die der Tod bei ihrer Protagonistin hervorruft. Zunächst, wie oben gezeigt, Konfusion. Dann einen Ichverlust, der sich als sein eigenes Gegenteil präsentiert: als eine extreme Ichbezogenheit. Bei dem Besuch des Polizeibeamten, der die Ergebnisse der Untersuchungen über die Absturzursache der Familie präsentieren will, macht Ariane schlapp und lenkt damit alle Aufmerksamkeit auf sich. Der sarkastische Kommentar ihrer Schwester: „Das muss man erst mal können. Sich herausnehmen aus allem und sich zur Hauptperson machen.“ Und das auch noch gleichzeitig. Am Ende fahren die beiden Schwestern gemeinsam zur Unfallstelle. „’Hier?’ frage ich. ’Man kann nichts erkennen’, sagt sie, ’aber es war hier.’“ Alles klar. Nichts geklärt.

Arianes Trauer nimmt egozentrische Züge an. Doch in dem gleichen Maße, in dem sie sich rücksichtslos gegen ihre Umgebung verhält, verliert sie sich selbst. Deshalb spielt „Der kleine Rest des Todes“ mitten in unserem Leben. Die Situation ist tragisch. Die Beschreibung poetisch. Vielleicht kann man auch deshalb diesen nicht sehr umfangreichen, eher kondensierten Roman als eine Mentalitätsgeschichte der Generation lesen, der Ulla Lenze, die 1973 geboren wurde, angehört. Es ist die Generation, die jetzt das Ruder übernehmen will, die der Röslers und Röttgens.

Ulla Lenze: Der kleine Rest des Todes. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankf./M. 2012, 156 Seiten, 18.90 €.

Martin Lüdke

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