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Kultur: Anleitung zum Unsichtbarsein

In „Imagine“ ermutigt ein Blindenlehrer seine Schützlinge zum Schritt ins Freie – gegen alle Gefahr.

Wie orientieren sich Blinde in der Welt? Für Sehende am unübersehbarsten: mit dem Blindenstock, vielleicht noch mit einem Blindenhund dabei. So sind sie immer schön sichtbar. Oder vielleicht auch: hässlich sichtbar. Als Hilflose, als Leute, um die man ebenjenen Bogen macht, den sie mit ihrem Stock beschreiben, zu ihrem eigenen Besten.

Dieses für die Augenmenschen so verräterische Besonderssein führt auch dazu, dass Blinde in der Öffentlichkeit häufig Sonnenbrillen tragen: Sie wollen nicht sofort als blind erkannt werden. Manche versuchen sogar, sich vom als Krücke empfundenen Stock zu befreien und stattdessen dank Echo-Ortung fortzubewegen, mit Zungenschnalzen, Fingerschnippen, metallbeschlagenen Schuhsohlen. Oder sie nehmen Ultraschallsensoren zu Hilfe, um wiederum nicht durch Zungenschnalzen oder Fingerschnippen aufzufallen. Immer schimmert hinter all dem ein scheinbar paradoxes Ziel: zumindest als Blinde unsichtbar zu sein.

Ein weites wissenschaftliches Feld. Oder der Auslöser für eine zarte Erzählung. Vielleicht sogar beides, ohne dass das Erste das Zweite beschädigt. Andrzej Jakimowski, der Poet und Philosoph unter den jüngeren polnischen Filmemachern, hat aus dem Thema den Spielfilm „Imagine“ geformt. Eine Geschichte über die Innenwelt der Blinden und zugleich eine Feier der Grenzüberschreitung und des Risikos. Eine Geschichte über die Befreiung aus dem Dunkel mit den Mitteln der Fantasie. Und eine – sehr leise – Liebesgeschichte.

In einem Lissabonner Blindenheim wird Ian (Edward Hood) als Orientierungslehrer engagiert. In dem Gebäude lebt neben dem Personal und den Schützlingen auch eine blinde Erwachsene namens Eva (Alexandra Maria Lara). Ians pädagogische Methoden sind gewagt. Er versucht, die Kinder ihres Blindenstocks zu entwöhnen – und beschwört dabei Unfälle herauf, die im geschützten Raum des Heims noch glimpflich abgehen mögen. Was aber, wenn sein verwegenes Unterwegssein draußen in der Stadt, sein Überqueren von Straßen, seine Lust auf Cafés tagsüber und das Trinken an langen Abenden Nachahmer finden?

Ian schont sich selbst nicht, davon zeugen schon seine vielfältigen Schrammen im Gesicht. Aber er bleibt so unerschrocken souverän, dass die Kinder ihn bald verdächtigen, nur zu simulieren. Und auch Eva, die sich Ian auf den Stadtgängen anschließt, wird an ihm zweifeln – zu Recht? Nur der Zuschauer weiß es fast von Anfang an besser, und er wird hineingezogen in den Strudel von Bewunderung, Ablehnung, Abstoßung und tiefem Verstehen, der höchst spannend und zugleich völlig undramatisch rund um den Blindenlehrer entsteht.

Ein Mikrokosmos, diese Schule. Und ein Universum. Wie das abgelegene Gehöft in Jakimowskis Debüt „Zmruz oczy“ (Bitte blinzeln), in dem ein vernachlässigtes Mädchen sich vor den reichen Eltern verschanzt. Oder wie die sommerliche Provinzstadt in „Sztuczki“ (Kleine Tricks), in der ein mit Schwester und Mutter lebender Junge seinen Vater, den er nur von einem alten Foto kennt, herbeizuzaubern versucht – bloß weil er glaubt, ihn letzthin auf dem Bahnhof wiedererkannt zu haben. Sind das Filmstoffe? Aber ja. Wer Jakimowskis Filme sieht, geht auf eine Reise. Und wenn der Abspann läuft, hat er einen Reisegefährten fürs Leben mehr. Jan Schulz-Ojala

Cinemaxx, FT am Friedrichshain,

Hackesche Höfe, Kant, Kulturbrauerei,

Passage, Union; OmU im Moviemento

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